Birgit Knoechl — Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen

 

Genauso wie die Linie zwei Flächen voneinander trennt, verbindet sie diese – die Linie ist konstitutiv für den Raum, den sie durchzieht; sei dies auf einem flachen Blatt Papier, oder sei dies als Pfad durch die Natur. Entlang von kunstimmanenten Fragestellungen über die zeichnerische Linie und ihr Verhältnis zum Raum setzt sich Birgit Knoechl in ihrer künstlerischen Praxis mit gesellschaftlich wirksamen Themen auseinander: Hybridisierung und Migration, Mimesis und Aneignung, Wachstum, Beschleunigung und Kontrolle. Birgit Knoechls Linien sind dabei keineswegs geradlinig. Mit Wucherungen, die den Ausstellungsraum geradezu bedrohen, indem sie Artefakte mit Formen aus der Natur zusammenbringen; mit sich in vielen Schichten überlagernden Schnitten, die mit dem Cutter aus ihrer Zweidimensionalität befreit wurden und deren Schatten immer weitere Linien hervorbringen; mit gedruckten Flächen, die innerhalb eines Bildträgers in zeichnerische Linien mutieren; mit kristallinen Körpern, deren Bestandteile mit glänzendem Latex überzogen sind und die wie die Umrisse eines Bildes im Raum sitzen; mit schwarz getuschtem Papier, dessen Beschaffenheit je nach klimatischen Bedingungen auf den Raum reagiert, lebendig – mit all diesen Methoden widersetzt sich Birgit Knoechl der Geradlinigkeit. Mehr noch – ihre Linien sind rhizomatisch, ohne Anfang und ohne Ende, entspringen sie doch aus einer Mitte heraus.

 

Im Kunstraum Lakeside sind Arbeiten aus Knoechls jüngsten Werkserie Bildungstrieb der Linie (2021/2022) zu sehen. Mit diesen durchgehend schwarzweißen Grafiken geht die Künstlerin dem Potenzial von Linien nach, räumlich zu werden und gleichsam einen Körper auszubilden. Die 51 Blätter umfassende Serie wirkt auf den ersten Blick heterogen: Denn die Künstlerin nutzt unterschiedliche Papierarten, Tusche und Linolfarben, sie arbeitet mit kleinen wie mit großen Formaten und sie wendet verschiedene Mischtechniken an. Bei genauerer Betrachtung werden Gemeinsamkeiten zwischen den Grafiken offenkundig: Nie hat es die Betrachter*in nur mit einer Linie zu tun, sondern stets mit dem Ergebnis von komplexen Übertragungs- und Überarbeitungsprozessen. Knoechl setzt also nicht einfach gestische Striche auf einen Bildträger, sondern entfernt Druckfarbe von einer Trägerplatte, fertigt davon – solange die Farbe noch feucht ist – einen Abzug an und bearbeitet diesen in weiterer Folge noch im Detail – etwa indem sie alle Flächen, die nicht Linie sein sollen, schwarz übermalt. Oder sie überlagert eine Monotypie mit Marmorierungen, also den zufälligen Ergebnissen von Tusche auf Wasser.

 

„Ich lasse zu, reagiere und kontrolliere“, so Birgit Knoechl zu ihrer künstlerischen Praxis. Die materiellen Eigenschaften von Farbe und Papier, sowie von den Farbträgern ihrer Monotypien, haben einen bestimmenden Anteil an den grafischen Endergebnissen. In ihrer forschenden Grundhaltung folgt sie Friedlieb Ferdinand Runge, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Trenneigenschaften von Papier nutzte, um mittels chemischer Lösungen Bilder von bestechender Schönheit zu schaffen. Der Chemiker und Gelehrte veröffentlichte 1855 das Buch Der Bildungstrieb der Stoffe veranschaulicht in selbstständig gewachsenen Bildern, in dem Papierchromatographien als Unikate eingeklebt sind. Runge beschreibt darin, wie die Chemie ihre eigenen Bilder macht und wie dieser „Bildungstrieb […] besser, als irgend ein Maler malen kann“, wobei die Entstehung des Bildes mit der Entstehung der Farbe zusammenfallen würde bzw. „indem sich die Farbe, d.h. die gefärbte Verbindung aus den chemisch entgegengesetzten Stoffe bildet, gestaltet sich das Bild“.[1]

 

Birgit Knoechl setzt auf die Eigenschaften der von ihr verwendeten Materialien, lässt zu, dass sie eigenständig Formen hervorbringen. Zusätzlich reagiert sie auf ebendiese Hervorbringungen. Ein Dialog zwischen dem Material und ihr entfaltet sich, wobei dem kalkulierten Zufall eine besondere Rolle zukommt. Denn durch Zufall entstandene bildliche Lösungen wiederholt die Künstlerin in seriellen Erprobungen, indem sie einzelne Parameter – etwa Materialien, Handgriffe oder deren Reihenfolge – abändert. Ihr eigener Körper versteht sie dabei als einen „Speicherautomat“, der Gesten des Zeichnens durch jahrelange Praxis aufnimmt, verarbeitet und wiedergibt; der also auch ohne ihre bewusste Steuerung Anteil an der Bildschöpfung hat.

 

In der Ausstellung Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen sind neben einer Auswahl an Grafiken auch Übertragungen von Knoechls zeichnerischen Linien in das Medium Film zu sehen. Hier spielen ebenfalls zeitliche wie räumliche Überlagerungen und die Bewegungen von Linien und Körper eine zentrale Rolle. Displays aus Karton und mit Papier überzogen, schaffen im Ausstellungsraum für die Grafiken und Filme ein skulpturales Setting, welches das Gezeigte gleichsam in Schwebe hält. Weder einzeln gerahmt und damit als für alle Zeiten ruhig gestellte Kunstwerke an die Wand gehängt, noch horizontal als immer wieder neu zu aktualisierenden Archivalien präsentiert, können die Blätter wie auf Lesepulten betrachtet werden. Diese Displays regen eine Auseinandersetzung mit den Grafiken an, die dem Lesen von Texten gleicht; einem Lesen allerdings, das nicht als das Dechiffrieren von transparenten Zeichen verstanden wird, sondern als eine Art des Verstehens, das die Materialität von Zeichen in den Vordergrund rückt. Mit dieser Präsentationsform lädt Knoechl ein, sich befremden zu lassen, mit den Augen den Markierungen am Papier zu folgen, sich also auf eine Reise, eine Bildreise, zu begeben, und dabei den Prozess der Herstellung, also die vielfältigen Formen der Übertragung, nachzuvollziehen.

 

„Egal ob als verwobener Faden oder als geschriebene Spur, die Linie wird dabei immer als in Bewegung und im Wachstum wahrgenommen“,[2] so der Anthropologe Tim Ingold. Birgit Knoechls Schau Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen ist eine Erkundung dessen, was Linien alles sein können. Ihre mittelbare Arbeitsweise dient dem buchstäblichen Herantasten an das, was Linien auszeichnet und ist eine Hingabe an das Material. Das Interesse der Künstlerin gilt dabei nicht abgeschlossenen Entitäten, sondern losen Verbindungen und dichten Geflechten, die sich je nach Betrachtung von ihrer Umgebung abheben oder mit ihr verknüpft sind. Es ist daher nur folgerichtig, dass sie sich selbst nicht als alleinige Schöpferin ihrer Bilder begreift, sondern, auf die relative Eigenständigkeit der von ihr verwendeten Materialien und der von ihr angestoßenen Prozesse hinweist. So wird offensichtlich, dass sie als Künstlerin – so wie alle Menschen – auf vielfältige Weisen mit der Welt der Stoffe verbunden ist, mit einer Welt, die sich als eine Bündelung von tatsächlichen wie imaginären Linien verstehen lässt, eine Welt, die mit verbindenden Fäden und Spuren durchzogen ist.

 

[1] Friedlieb Ferdinand Runge, Der Bildungstrieb der Stoffe veranschaulicht in selbstständig gewachsenen Bildern, Oranienburg 1855, S. 23.
[2] Tim Ingold, Eine kurze Geschichte der Linien, Konstanz 2021, S. 14.

 

Text by Gudrun Ratzinger
erschienen zur gleichnamigen Ausstellung  im Kunstraum Lakeside
Ausstellung, 16. März – 22. April 2022

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[caption id="attachment_470" align="alignnone" width="300"] Published to document the activities for the first year of SWINGR_raumaufzeit.
Concept: Christoph Holzeis, Luisa Kasalicky, Birgit Knoechl, Nicole Miltner, Rainer Spangl
Photos: Christoph Holzeis, Roland Icking, Nicole Miltner, Rainer Spangl, Peter Pölzl
Text: Christoph Holzeis
BUCHER VERLAG
ISBN: 978-3-902612-22-9
©2007 Autoren/Künstlerinnen[/caption]

[caption id="attachment_469" align="alignnone" width="300"] Published to document the activities for the first year of SWINGR_raumaufzeit.
Concept: Christoph Holzeis, Luisa Kasalicky, Birgit Knoechl, Nicole Miltner, Rainer Spangl
Photos: Christoph Holzeis, Roland Icking, Nicole Miltner, Rainer Spangl, Peter Pölzl
Text: Christoph Holzeis
BUCHER VERLAG
ISBN: 978-3-902612-22-9
©2007 Autoren/Künstlerinnen[/caption]
BIRGIT KNOECHL

 

Ausgehend von der Linie auf zweidimenionaler Oberfläche entwickelt Birgit Knoechl dreidimensionale, raumgreifende und formende Strukturen. Deren heterogener, organisch wirkender Verlauf steht dabei den statischen Gegebenheiten des Ausstellungsraumes gegenüber. Linie lösen sich aus ihrer Begrenzung und formen sich zu Gebilden, der Begriff des Zeichnens erfährt eine technische Erweiterung.

 

Durch den Schnitt kann die Zeichnung in andere Ebenen gebracht werden, sie wächst in den Raum. Für The Autonomy of Growth bemalt die Künstlerin ihre mit dem Stanleymesser geschnittenen, gerissenen und teils geklebten Papierskulpturen mit Tusche und konstruiert aus einzelnen Bausteinen, die sie ihrem Archiv entnimmt, großformatige Wandgebilde, üppige Arrangements, die sie an die jeweilige räumliche Situation anpasst. Gut zehn Meter lange weiße Bahnen aus Aquarellpapier stehen hierfür als Ausgangswerkstoff zur Verfügung. Durch das Schöpfen aus ihrem vielfältigen Archiv und die immer neue Verknüpfung der einzelnen Elemente schafft es Knoechl, eine schier endlose Bandbreite an Konstellationen für ihre Arbeit zu gewährleisten. Mittels der Bearbeitung und mehrfachen Bemalung gewinnt das Material an Haptik, unterschiedliche Nuancierungen betonen die Beweglichkeit des Grundstoffs Papier und schaffen eine wandlungsfähige Skulptur.

 

Vormals inspiriert durch japanische Ornamentik, entnimmt die Künstlerin sämtliche Formen und Strukturen für ihre Arbeiten nun dem Erscheinungsbild pflanzlicher Lebensformen. Es entsteht eine dynamische, nahezu bedrohliche Wucherung im Raum, die Blatt- und Blütenformen aufgreift und umstrukturiert, abstrahiert. Dabei finden sich Nadelformen und Knollenartige Strukturen ebenso wie Blattmuster und Knospen, die in Verästelungen auslaufen oder sich in Knoten verdichten. Die daraus resultierende Entfaltung im Raum und somit Okkupation desselben basiert auf der Inspiration durch invasive pflanzliche Organismen: Neophyten wandern und siedeln sich in neuen Gebieten an, wobei sie teils heimische Pflanzenarten vertrieben. Neben einer gesellschaftspolitischen Deutungsebenen, die gerade in Zeiten großer Fluchtbewegungen anklingt, legt der Terminus des Wachstums auch Parallelen zu wirtschaftlichen Prozessen nahe. Knoechl verknüpft in ihren Arbeiten oft wissenschaftliche, politische und ästhetische Aspekte, ohne jedoch explizit zu werden und dem Betrachter dabei Gegebenheiten aufzudrängen. Auch Epiphyten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie auf anderen Pflanzen wachsen, werden als Vorbilder herangezogen, genauso wie Rhizome (Wurzelgeflechte) oder Hybride, die sich durch die Kombination verschiedener Elemente definieren. Letztere verweise zudem auf die unterschiedlichen Gestaltungsprozesse innerhalb der Arbeit: Zeichnung, Papierschnitt und Installation sind für sich feste Elemente und ergeben durch ihre Kombination zudem eine neue, weitere Ebene. Auch in dem Medien Film und Literatur interessiert sich Knoechl für den invasiven Eingriff organischer Strukturen in fremden Territorien: das Buch The secret life of plants (1973) von Peter Tompkins und Christopher Bird, das die Künstlerin als Quelle der Inspiration heranzieht, untersucht anhand von Experimenten ungewöhnliche Verhaltensmuster von Pflanzen und schließt daraus auf deren Gefühlswelt und mimetische Fähigkeiten. Der in der Werkgruppe von Knoechls Wandarbeiten oftmals beigefügte Titel Out of control lässt neben dem pflanzlichen Wucherungscharakter ebenso eine weitere, politische Deutung zu: Bei Demonstrationen beschreibt dieses Prinzip das Auflösen der Formation und das neue Zusammensetzen der Gruppe an einem anderen Ort. Unkontrollierte Bewegungen und Dezentralität sind der Kern des Prinzips. Durch das stetige Auflösen der Komposition in ihre Bestandteile und die erneute Zusammensetzung anderenorts – Bausteine fallen weg oder kommen hinzu – greift Knoechl dies in ihrer Arbeit auf.

 

Wenngleich das Pflanzenwachstum durch seine unkontrollierbare Ausuferung somit durchaus eine bedrohliche Komponente beinhaltet, verweist es doch auch positiv auf den Ursprung des Lebens und geht dabei sowohl leise als auch langsam vonstatten. Knoechls Gebilde scheint nicht nur gewachsen zu sein, sondern sich noch immer im Wachstumsprozess zu befinden.

 

Trotz aller Orientierung an pflanzlichen Mustern gibt die Form nicht vor, Natur zu sein; die Grenze zwischen Natürlichem und Fiktivem wird zum einen unterstrichen, andererseits aber auch aufgehoben. Parallelen finden sich zudem zwischen der dargestellten Pflanzenwelt und dem natürlichen, pflanzlichen Ursprung des Werkstoffs Papier. Durch eine gewisse Empfindlichkeit, die dem Material geschuldet ist, können sich Knoechls Gebilde, je nach klimatischen Bedingungen im Raum, leicht bewegen und verändern sich im Laufe einer Ausstellungsperiode. Sie nehmen natürlich anmutende Wandlungstendenzen an und ordnen sich dabei neu. Durch Temperatur und Luftfeuchtigkeit ziehen sich die Papierelemente zusammen oder dehnen sich aus. Dies führt zu einem fast lebendigen Eindruck der Formen und einem Spiel mit Licht und Schatten, was eine weitere räumliche Komponente konstruiert.

 

Laut Knoechl lässt sich das Aufgreifen der pflanzlichen Formen in ihrer Arbeit durchaus verschiedenartig deuten und auch politisch lesen – trotzdem verhält es sich bei der Interpretation wie bei einem Rorschach Test: Nichts ist festgelegt oder muss gesehen werden, die Arbeit ist individuell zu lesen und es geht nicht darum, Sachverhalte explizit darzustellen und verstehen zu müssen. Vorbild und Wahrnehmung müssen außerdem nicht immer kongruent sein, sondern lassen gleichermaßen Raum für Überlagerung wie Differenz.

 

An Birgit Knoechls Arbeit The Autonomy of Growth wird der Wandel innerhalb der Disziplin Scherenschnitt im Laufe der Zeit besonders deutlich: weg vom klassisch flächigen und kleinformatigen, silhouettenformenden Scherenschnitt entstehen nun große, raumgreifende und vielmehr dreidimensionale, skulpturale Installationen. Die Autonomie der Gestaltung ist dabei Grundlage der Arbeiten. So werden Elemente aus verschiedenen Disziplinen mit eingebunden, es kommen Einflüsse aus Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Architektur zum Tragen. Das Papier ist endgültig plastischer Werkstoff, bildet die Basis für Skulptur und Objektkunst. Eine Anlehnung an traditionelle Muster des Scherenschnitts findet sich am ehesten in der Reduzierung der Farbpalette auf Schwarz und Weiß, mit leichten Nuancierungen.

 

Text by Stephanie Buck


published in »SCHARF GESCHNITTEN«
Galerie Stihl / Waiblingen / Germany
2018

RISS_WACHSTUM_0IV

RÉCOLTE_0I – INCIDIT KNOECHL

 

Die Technik des Scherenschnitts findet sich in den verschiedensten Kulturen und kann auf eine mehr als tausendjährige Entwicklungsgeschichte zurückblicken, deren Wurzeln in China liegen. In der europäischen Kultur ist der Scherenschnitt seit ca. 1600 n. Chr. nachweisbar und erfährt seine Blüte in den Schattenrissen und Silhouetten des 18. und 19. Jahrhunderts. Danach hat er, neben seiner untergeordneten Rolle als Experimentier- und Exerzierfeld künstlerischer Ideen, kaum Bedeutung und wird allenfalls im Bereich des Kunsthandwerks tradiert. Henri Matisse (1869-1954) etablierte den Papierschnitt, den er als Mittel der Abstraktion begreift, in der Moderne als eigenständige Kunstform, die jedoch vorerst keinen kontinuierlich-hohen Stellenwert erringt. Erst in den letzten Jahren hat diese Technik wieder an Relevanz gewonnen und rückt zusehends in den Fokus der Aufmerksamkeit des Kunstbetriebs, sowohl von Produzenten als auch von Rezipienten. Von besonderem Interesse sind die immensen gestalterischen, technologischen und formalen Möglichkeiten des Scherenschnittes, derer sich die Künstler und Künstlerinnen heute in vielfältiger Weise ohne Berührungsängste bedienen und die sie neu interpretieren.

Das historische Mittel des Scherenschnitts hat sich von seiner herkömmlichen Erscheinungsart als kleines, zweidimensionales, aus Papier geschnittenes Schattenbild weitestgehend gelöst. Es hat den dreidimensionalen Raum erobert und wird häufig monumental umgesetzt, realisiert in einer großen Bandbreite an unterschiedlichsten modernen Materialien, Techniken und Formen.

Der Scherenschnitt ist heute, im zeitgenössischen Kontext, zu einem faszinierenden, eigenständigen Medium avanciert, das die ihm ursprünglich zugeschriebenen Aufgaben der mimetischen bzw. idyllischen Wiedergabe der Gegenstandswelt oder des bloßen ornamentalen Dekorums bei weitem überschreitet und sich nun, jenseits aller romantischen und traditionsbehafteten Vorstellungen, mit neuen Inhalten aufgeladen, als durchaus zeitgemäßes und tragfähiges Mittel der kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen von Kunst und Gesellschaft erweist.

 

Birgit Knoechl arbeitet, wenn sie sich des Mediums des Scherenschnittes bedient, zumeist in herkömmlicher Form mit Papier, so auch in der Arbeit RISS_WACHSTUM_0IV, die aus ca. 70 papierenen Modulen besteht.

Den Ausgangspunkt des Werks liefern biologische Strukturen, etwa von Pflanzen und Kristallen, mit denen sich die Künstlerin befasst. Daraus werden Formen abgeleitet und aus dem Papier geschnitten. Das Papier selbst wird entweder weiß, im Ton des Materials belassen oder häufig auch mit satter, schwarzer Tusche gefärbelt, wodurch die Formen eine unheimlich-changierende Oberflächenstruktur erlangen. Diese Papierteile installiert die Künstlerin in skulpturaler Weise zu großen, dicht verwobenen Installationen, die quasi in den Raum wachsen. Sie erscheinen als Analoga zu organischen und anorganischen Wachstumsprozessen. Sie erlangen Lebendigkeit, breiten sich üppig wuchernd im Raum aus, nehmen beeindruckende Ausmaße an und scheinen den Raum zu erobern.

 

Bildnerisch widmet sich die Auseinandersetzung Birgit Knoechls der Untersuchung eines erweiterten Zeichnungsbegriffes, insbesondere in Hinblick auf die räumlichen Möglichkeiten des Mediums.

Die zeichnerische Linie, als Ausgangspunkt der Arbeit, wird während des Herstellungsprozesses des Werks aus der Fläche, vom Papier, in den Raum transferiert. Sie wird in einer konkreten Positiv- oder Negativform materiell umgesetzt und dadurch haptisch erfahrbar, skulptural und raumgreifend wirksam. Das ursprünglich flache Mittel des Scherenschnitts erscheint als dreidimensionales Werk in ungewohnt großer Dimension.

Grundgelegt ist ein modulares System. Aus Einzelteilen, aus simplen Basisformen, wird eine dichte Struktur gebaut, die sich in alle Richtungen rhizomartig weiter entwickelt. Sie ist in sich vielfach verbunden und verkettet, homogen strukturiert und ohne definitives Zentrum. Je nach Perspektive erscheint sie unterschiedlich organisiert. Eingeschränkt werden die sich ausbreitenden „Gewächse“ offensichtlich nur durch die limitierenden Vorgaben der Architektur. Diese bildet den Rahmen, sie bestimmen Form und Größenverhältnisse.

 

Im Außenraum ist das anders – hier tritt die Arbeit nicht in Rivalität mit der Umgebung, breitet sich nicht aus, erobert nicht Terrain, ordnet sich dem Umfeld nicht unter. Der Raum ist offen und unbestimmt und das Werk ist als eine Skulptur zu begreifen, die ein abgeschlossenes Volumen beschreibt. Die Materialität der Arbeit trägt das ihre dazu bei: schwarzer Gummi, reiß- und witterungsfest. Er vermittelt Körper, Gewicht und Beständigkeit. Die Skulptur ist auf einem Grundgerüst aus poliertem Stahl aufgebaut, das die abstrahierte Form einer Heu-Harfe zitiert, eines hölzernen Gerüstes, das der Trocknung der Mahd dient. Die Künstlerin bezeichnet ihr Werk mit dem Titel „Récolte“ („Ernte“), und präsentiert ihre Gummi-Schnitte, sozusagen als Ernte ihrer künstlerischen Tätigkeit.

Birgit Knoechl verwendet 9 Gummi-Module von einfacher, klarer, abstrakter Gestalt, die wiederum von botanischen Strukturen abgeleitet wurde. Sie werden aus 120 cm breiten Gummi-Bahnen geschnitten, am Stahlgerüst aufgehängt und miteinander verbunden. Durch die Windungen des Gummis, die sich im Hängen bilden und durch die Ausschnitte aus dem Material ergeben sich unzählige Perspektiven, die den Blick durch leiten. Ein differenziertes Licht-Schatten-Spiel, das immer schon ein Faszinosum des Scherenschnittes darstellte, entwickelt sich. Hier dient es vor allem der Steigerung raumplastischer Effekte und der ästhetischen Wirksamkeit.

Die Ambivalenz von Realität und Illusion, von Negativ und Positiv, das Verhältnis zwischen Sein und Schein, die Wirkung von Materialität und Immaterialität, das räumliche Spiel von Davor und Dahinter machen das Werk zu einem komplexen Gebilde. Sie verleihen dem Scherenschnitt große Erlebnis- und Ausdruckskraft und machen ihn zu einem idealen Mittel zeitgenössischen Kunstschaffens. Und sie heben ihn weit über die Möglichkeiten seines ursprünglichen Ausgangsmediums, der Zeichnung, hinaus.

 

Die Papierschnitte in den Plexiglaskästen verdeutlichen das Verhältnis zur Zeichnung besonders gut. In ihnen erscheinen die Formen gezähmt – in ihrer Kontur erfassbar, kultiviert und als Einzelteile lesbar. Wie zarte Pflänzchen im Herbarium. Raum wird hier durch Schichtungen unterschiedlicher flacher Ebenen erzeugt und nicht durch Vernetzung und Verwindung. Licht- und Schattenspiele gibt es nicht. Die Arbeiten erscheinen wie eine Fußnote zum restlichen Werk, gleichsam visuelle Erläuterungen des Denkens und Handelns der Künstlerin.

 

Text by Christine Wetzlinger-Grundnig


RISS_WACHSTUM_0IV
RÉCOLTE_0I – INCIDIT KNOECHL
erschienen zur Ausstellung im Schau-Kraft-Forstsee
2016

ELISABETH CZIHAK / BIRGIT KNOECHL – JUMP THE LINE

 

In der installativen Ausstellung »Jump the Line«, die Elisabeth Czihak und Birgit Knoechl speziell für die Kunsthalle Nexus entworfen haben, beschäftigen sich die beiden Künstlerinnen auf sehr unterschiedliche, aber korrespondierende Weise mit zeichnerischen Prozessen in Verbindung mit Raumfragen. Beiden geht es um die Besetzung des Raumes durch die Linie, die bereits seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts von ihrer traditionellen Zweidimensionalität „befreit“ wurde und seitdem in alle Richtungen – Skulptur, Raum und Wand – erweitert wird. Die Liniengespinste zwischen Konzept und Zufall, Konstrukt und Poesie führen – im Fall von Czihak – über mehrere Wände bzw. wuchern – im Fall von Knoechl – als dreidimensionale Papierschnitte, sogenannte Cut outs von der Wand in den Raum. In ihren Arbeiten untersuchen die Künstlerinnen die formalen Möglichkeiten der Linie an sich, deren Eigenschaften des Flüchtigen und Irregulären im Verhältnis zur festgefügten Architektur des Raums. „Jump the Line“ – die Linie ist in Bewegung: Nicht nur die Arbeiten der Ausstellung sind auf unterschiedlichste Weise von Bewegung dominiert, auch ihre Entstehung basiert auf einem besonders intensiven körperlichen, ja performativen Einsatz der Künstlerinnen. Ruhender, aber dominanter Pol in der Mitte, um den sich alles bewegt, ist die Stativ-Gruppe mit Beleuchtungsspots, Resultat einer pointierten Lichtregie. In einem mehrtägigen, den Raum sowie die Möglichkeiten der Linie erkundenden Prozess zwischen Emotion und Ordnung hat Elisabeth Czihak mit Bleistift eine Wandzeichnung ausgeführt, die sich weitläufig über die Wände zwischen Galerie und Hauptraum der Kunsthalle zieht. In ein „Gerüst“ aus wellenförmigen Linien hat sie mehr oder weniger zu Haufen verdichtete Linienknäuel eingearbeitet, die sich über die Wände bewegen. Czihak nennt sie „creatures“, Kreaturen, Wesen, durchaus auch im Sinn von Fabelwesen, denn sie haben etwas Unbestimm-tes, Mysteriöses an sich. Es lassen sich Klettergewächse assoziieren, oder doch eher davon-fliegende Wollmäuse, aber vielleicht auch Ungeziefer, das sich in Gruppen in eine Ecke flüchtet und auch schon fast bedrohlich aus Ritzen hervorkriecht, um ebenso wieder darin zu verschwin-den. – Anders als bei der Zeichnung auf Papier liegt bei der Wandzeichnung das absolute Ende grundsätzlich in weiter Ferne; die Begrenzung liegt in der Entscheidung der Künstlerin. Czihak hat als Anfangs- und gleichermaßen Endpunkt ihrer Wandzeichnung eine großformatige Foto-grafie im Hauptraum bestimmt, die einen unter rätselhaften Umständen radikal verbogenen Heizkörper zeigt, einen Heizkörper, dessen Bewegung durch die Fotografie eingefroren ist. Das Foto steht im Kontext von Czihaks Interesse an verlassenen Gebäuden und Wohnungen. Ihr geht es hier vor allem um das Aufspüren von Vergangenem, Flüchtigem, Transformatorischem; sie fühlt sich mit ihren Fotografien und der damit verbundenen intensiven Recherche in die Räume und Situationen ein, eignet sie sich an – ebenso wie sie sich den Ausstellungsraum mit der Zeichnung erschlossen hat. Ihre Fotografien sind unveränderte Abbildungen der jeweiligen Realität von Örtlichkeiten und Situationen. Der Bruch des rein Dokumentarischen liegt in der Tatsache, dass sie nie den ganzen Raum, sondern immer nur Ausschnitte zeigt und auch darauf verzichtet, Ort, Zeit und Umstände näher zu bezeichnen. Die Räume bekommen dadurch etwas Poetisches, wodurch ein Spekulieren und Rätselraten über die vergangenen Geschehnisse und ehemaligen Bewohner bzw. Nutzer der Räume in Gang gesetzt wird. Durch seine absurde, unerklärliche Verformung und den dadurch bedingten Verlust seiner Funktionalität steht der Heizkörper wie eine Skulptur da und kann im Kontext Kunst reflektiert werden. Ebenso ambiva-lent gibt sich die Fototapete, die man in ihrer Monumentalität als eine Art installatives Bild sehen kann. Gezeigt wird ein menschenleerer Raumteil mit einer früheren Installation von Czihak: rechts die Ansicht und links das spiegelverkehrte Motiv. Auch dieser Raum gibt keinen deut-lichen Verweis auf die zugrunde liegenden Umstände. Optisch wird der Raum der Kunsthalle erweitert, denn der Tapetenraum tritt so plastisch hervor, das wir glauben, diesen betreten zu können und vielleicht sogar nach hinten weitergehen können. Czihak hat hier zahlreiche Raumebenen geschaffen und durch deren Verschränkung Bewegung in die eingefrorene Situation gebracht. Neue Wahrnehmungsmöglichkeiten räumlicher Strukturen eröffnen sich. Neben dem Raum des Tapetenmotivs gibt es noch den auf dem ‚Foto im Foto’ dargestellten Raum, den durch die Spiegelung entstandenen neuen Raum sowie den künstlerisch bespielten Ausstell-ungsraum – ein irritierendes Spiel, das durch die Spiegelverkehrtheit und die beim diagonalen Vorbeigehen erfahrbare optische Verschiebung des Tapetenraums noch potenziert wird.

Auch Birgit Knoechl geht es formal um einen erweiterten Begriff der Zeichnung, um einen Transfer von der Zwei- in die Dreidimensionalität, um die Materialisierung und Bewegung der Linie und dabei gleichzeitig um eine Auseinandersetzung mit Raum, den sie sich aneignet, mit ihren Arbeiten okkupiert und ihn damit auch neu definiert. An den beiden hohen aneinander stoßenden Wänden der Kunsthalle hat sie nach einer subjektiven Dramaturgie einen Bewegungsfluß von Cut outs, bestehend aus mehreren Modulen – also von ihr vorgefertigten „Bausteinen“ – installiert. Diese wurden manuell auf der Basis von Tuschezeichnungen aus meterlangen stärkeren Papierbahnen geschnitten. „Aspects of growth_ white noise“ heißt diese Installation mit bis auf wenige Übermalungen weiß gehaltenen Objekten. Es ist ein stilles weißes Rauschen, das sich dafür umso mehr in einer barocken Bewegtheit artikuliert. Bewusst gesetzt dazu ist der gegenüber in der Galerie angebrachte kleine, weniger ausbuchtende, schwarze Cut out. – Nachdem die Formen aus dem Papier geschnitten wurden, findet in einem längeren Arbeits-prozess vor Ort eine weitere Transformation der Linie statt: das Drapieren und Schichten zu dreidimensionalen Objekten. Dabei geht es Knoechl darum, mehrere Ebenen zu schaffen. For-men beginnen, bewegen sich vorwärts, werden abgebrochen und an anderer Stelle wieder auf-gegriffen. Aus Knäueln ufern Ableger aus – wie bei Czihak gleichsam feinsinnig und bedrohlich, zurückhaltend und explosiv. Man kann die sinnlich-poetische Wirkung genießen und spüren, wie sehr sich Knoechl auch für das Material interessiert, für das Papier als lebendigen und vielsei-tigen Werkstoff. Und es geht ihr um die Visualisierung von Wachstumsprozessen (aspects of growth) in der Natur, in die sie gleichsam ordnend wie auch kreativ-experimentell eingreift. Ihre Formen holt sie aus einem großen, selbst angelegten Archiv von Garten- und Wildpflanzen und auch in besonderem Maße von Neophyten. Dies sind Pflanzenarten, die sich ohne oder mit menschlicher Einflussnahme in einem Gebiet etabliert haben, indem sie zuvor nicht heimisch waren. Sie sind demnach von hoher Anpassungsfähigkeit, Resistenz und häufig auch von sol-cher Dominanz, dass sie heimische Pflanzen bedrohen und verdrängen können. Knoechl fas-ziniert die Dynamik und Unberechenbarkeit dieser wilden Kräuter als Basis ihrer wuchernden Gebilde. Ihre Formfindung geschieht durch die Herausisolierung von Blatt- und Blütenformen aus dem Archiv, die sie wiederum bearbeitet und abstrahiert und zu neuen Pflanzengebilden zusammensetzt. Es entsteht ein Dschungel aus auswuchernd-wilden und dann doch wieder ge-ordneten Strukturen, aus klar konturierten und weichen Formen, aus verdichteten und offeneren Stellen, Kreaturen wie bei Czihak. – Durch die prägnanten Schatten, die durch die starken Spots gebildet werden, wird zusätzlicher Raum geschaffen. Neue Perspektiven entstehen auch durch das Eigenleben der Cut outs, die sich auf Grund ihrer Materialität und äußerer Gegebenheiten ständig in der Form verändern können und sich widerspenstig gegenüber der strengen Architek-tur verhalten. – Eine konsequente Weiterführung von Birgit Knoechls Raumarbeiten ist ihre ge-rade publizierte Monografie „Aspects of Growth“, die, ebenso ein Machwerk aus Papier, über die Abbildungen hinaus den Papierschnitt miteinbezieht.

 

Text by Petra Noll


Vernissagenrede, 13.11.2015
Kunsthalle im Kunsthaus Nexus

Linie, Eckstein, Molekül

(über Vorsicht und Mimetik)

 

Für Birgit Knoechl

 

Und wenn es nichts von dir will? Und erst recht nichts von dir braucht? Sondern irgendwo da draußen wartet? Auf den Tag. Auf etwas Regen. Oder Sonne. Oder auf Reize und Erschütterungen, die deine Sinne ohnehin nicht wahrnehmen würden. Es: das Ding, das Tier, das Gewächs, das Wetter, das organische und anorganische Leben. Deine Gefühle, Gedanken und Worte werden es nicht berühren. Den Wassermolekülen ist es egal, ob dich der Regen bis auf die Haut durchnässt. Und der verhangene Himmel wird sich nicht öffnen, nur weil du dich nach Licht sehnst. Zumindest gibt es keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass es anders wäre. So stellen wir uns die Natur als eine Welt voller Dinge, Kräfte und Phänomene vor, die, was sie sind, ganz für sich sind, und auf eine Art ganz bei sich bleiben. Im Gegensatz zu uns Menschen, die wir der Gegenwart stets voraus eilen und glauben kraft unseres Bewusstseins die Dinge durchdringen, verstehen und beherrschen zu können. Eine Anmaßung. Was würde das Bewusstsein in seine Grenzen verweisen, wenn nicht die Tatsache, dass kein Wissen der Welt dem Wasser je seine Nässe nehmen wird? Vielleicht ist der entscheidende Schritt, der in Kunst und im Denken zu vollziehen ist also diese Grenzen anzuerkennen und klarzustellen: Mein Bewusstsein endet hier. Auf dieser Linie. Und diese Linie überschreite ich nicht. Ich ziehe sie. Und berühre sie auf meiner Seite. Was diese Linie auf der anderen Seite berührt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Nur so viel: als Grenze bildet die Linie zumindest eine Berührungsfläche, eine Achse, auf der die Dimensionen aufeinander treffen, ein Knick in der Welt, um den sich herum Dimensionen der Wirklichkeit auf - und auseinanderfalten könnten.

 

Und wenn du es doch kennst? Viel besser kennst, als du denkst? Es: das Ding, das Tier, das Gewächs, das Wetter, das organische und anorganische Leben. Denn wieso sollte die Natur da draußen still für sich ihre Sache machen? Immerhin bist du Teil von ihr. Und sie durchwirkt dich ständig. Schon wenn du kalte Füße bekommst und dir die Bodenkälte langsam im Körper emporkriecht. Roger Caillois schreibt, am Tag seien Körper zwar vergleichsweise lichtundurchlässig, in der Nacht aber gehe die Dunkelheit dir unter die Haut und durchflute den Körper ganz.[1] So wie Radiowellen dich durchdringen. Wenn du der Welt nicht als Fremdkörper entgegentrittst, sondern in ihr bist, warum tun wir dann so, als sei sie ein Außen, als läge ein Schleier über ihr, hinter dem die Dinge im Verborgenen lebten. Als ob wir beim Gang durch die Natur ständig aufsagten: ”Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vorder mir gilt es nicht! Und an allen Seiten nicht!" Was, wenn der Eckstein nicht versteckt, sondern in und außer uns immer gegenwärtig wäre? Dann müsste man spekulative Physik verstehen lernen.[2] Oder mehr Kunst machen. Denn was wäre Kunst, wenn nicht — seit Urzeiten, wo sie noch ausdrücklich als Totem- und Fetischmacherei verstanden wurde — der Versuch mit den Kräften der materiellen Welt in Verbindung zu treten. In Verbindung treten heißt nicht Übersetzen zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Sprache (durch Lichtorgel spielen vor Außerirdischen, Entschlüsselung von Eiskristallformen oder Sprachunterricht für Kakteen[3]). Es läuft hier nicht ab wie bei Verhandlungen zwischen zwei Parteien. Denn die Verbindung besteht bereits, insofern bestimmte Prozesse synchron in unterschiedlichen Organismen und Dingen stattfinden. Pflanzen zum Beispiel scheinen Geschehnisse in ihrer Umgebung mitzuvollziehen. Der Schmerz eines Organismus in der Nähe einer Pflanze finden in ihr eine Entsprechung in messbaren Erregungszuständen. Auf vergleichbare Weise lassen sich in Senfkeimlingen elektromagnetische Frequenzmuster messen, die mit der von Planetenbewegungen exakt übereinstimmen.[4] Wenn sich Kräfte, Impulse, Schwingungen und Affekte also parallel im Medium verschiedener Körper auswirken sollten, dann gäbe es eine Art multimediale Mimetik in der Natur. Was mir durch Mark und Bein geht, mag im selben Moment die Blattadern einer Pflanze durchlaufen. Und was das Wetter macht und Wolken in den Himmel setzt, magnetisiert die Elektronen in meiner Hirnrinde gleich mit. Die Musik der Sphären erklingt multitimbral mit einer überlagernden Stimme.

 

Für einen von Vorsicht getragenen, Grenzlinien ziehenden Denkansatz werden sich genauso gute Gründe finden lassen, wie für eine mimetische Prozesse nachzeichnende, spekulativ empathische Form der Annährung an die Natur der Welt. Und es ist keine Frage der Wahl oder Glaubensentscheidung. Denn beide Formen des Wissens gibt es heute, so oder so. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, Wege zu finden, mit der Tatsache umzugehen, dass die vorsichtige und die mimetische Sichtweise gleich wahr sein könnten.

 

Das Besondere an der Arbeit von Birgit Knoechl liegt darin, dass sie sich künstlerisch auf genau diese Herausforderung einlässt! Sie bewegt sich, ebenso vorsichtig Linien ziehend wie multimedial mimetische Formen gestaltend, in einen Wirkbereich hinein, wo Artefakt und Natur in einem Moment klar auseinandertreten, im nächsten Moment dagegen von mimetischen Gestaltähnlichkeiten, Form- und Frequenzresonanzen durchwirkt zu sein scheinen. Ihr Umgang mit dem Anspruch von Kunst auf die Vergegenwärtigung der Welt ist auf der einen Seite spürbar, ohne jede Anmaßung. Ihre Arbeit sagt nicht: Ich bin Natur. Sie sagt stattdessen offen: Ich bin Tinte auf Papier, Pappe, Latexüberzug, Scherenschnitt und Muster, Arbeit im Medium, keine Repräsentation, kein Rendering des Realen. Entlang der klar gezogenen Trennlinie jedoch lässt Knoechl zugleich Parallelströme fließen. Mit Latex überzogen wird ein aus Pappe oder Papier gefalteter geometrischer Körper auch zu einem Gegenstand mathematischer Fetischmagie. So vermittelt er eine Ahnung dessen, was in diesem Moment simultan und synchron zu Knoechls Zeichnungen und Objekten in anderen Medien der Natur stattfinden mag: in der Geometrie der Dinge, im fraktalen Muster eines Pflanzenwuchses, in der wechselseitigen Überlappung von Blättern oder im Rhythmus der Membranenbewegung eines Organismus im Meer. Ansprüche auf höheres Wissen leiten sich daraus keine ab. Im Gegenteil. Was Wissen in Bezug auf die Dinge der Natur bedeutet, welche Form sie überhaupt nur annehmen können, ist eine Frage, die

Knoechls Arbeit unabweisbar in den Raum stellt, wenn ihr skeptisch agnostischer Zug in den Vordergrund tritt, das Artefakt seine Bedeutung in sich verschließt und dich spüren lässt, dass du nicht wissen wirst, was dieses Ding weiß. Ein Gefühl, das im nächsten Augenblick schon umschlagen kann in eine riskante Ahnung davon, dass dein Körper bestimmte Formen, Resonanzen und Rhythmen besser kennt, als dein Bewusstsein es zugeben würde. Riskant? Weil es mit landläufigen Mitteln vermutlich nicht zu beweisen wäre. Und weil Knoechl sich der falschen Wahl zwischen Skepsis und Mimetik widersetzt und stattdessen den Raum zwischen ihnen betritt. Es ist ihr Risiko, eine Kunst zu machen, die die Grenze zur Natur klar herausstellt und diese zugleich im multitimbralen Zusammenklang von Linien und Materialien mit Körpern, Gestalten, Volumen und Kräften aufhebt. Ohne Beweise und Rechtfertigungen. Aber mit dem Mut, Gespür und Humor einer Einlassung auf das ontologisch Ungewisse, das heißt, wirklich mit den Mitteln von Kunst.

 

Text by Jan Verwoert


publishes in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015


 

[1] Roger Caillois: Mimétisme et la psychasthénie légendaire. In Minotaure 7, 1935.


[2] Zum Beispiel in ihrer philosophischen Deutung durch Karen Barad in: Meeting the Universe Halfway, Duke University Press, Durham 2007. Ich danke Federica Bueti fürs Vorlesen.


[3] Viele parawissenschaftliche Untersuchungen fallen genau an dem Punkt hinter ihre Intuitionen zurück, wo sie sich der Welt der Phänomene doch wieder nur in konventioneller Weise als einem Gegenüber nähern, dem wir etwas vermitteln oder entlocken könnten, wenn wir nur den Code für die Informationsübermittlung besäßen. Ikonische Beispiele wären die Begrüßung von Außerirdischen mit einer kybernetischen Lichtorgel in Steven Spielbergs Close Encounters of the Third Kind (1977), die Ausdeutung von Wasserkristallformen als genormte Symbolsprache durch Masaru Emoto, oder die im FilmThe Secret Life of Plants (1979) dokumentierten Versuche des Wissenschaftlers Ken Hashimoto, Kakteen Japanisch beizubringen.


[4] Viele überzeugende Beispiele für derartige Phänomene finden sich in dem Buch The Secret Life of Plants von Peter Tompkins und Christopher Bird (Harper & Row, New York 1973) und der Filmadaption durch Walon Green (1979), so auch die Experimente von L. George Lawrence mit Senfkeimlingen. Vielen Dank an Birgit Knoechl für den Hinweis auf Buch und Film!

Line, Cornerstone, Molecule

(On Caution and Mimicry)

 

For Birgit Knoechl

 

And what if it doesn’t want anything from you? And certainly doesn’t need anything from you? Rather waits somewhere out there? For the day. For some rain. Or sun. Or for stimuli and vibrations your senses anyway wouldn’t perceive. It: the thing, the animal, the growth, the weather, organic and inorganic life. Your feelings, thoughts, and words won’t touch it. Water molecules don’t care if the rain soaks through to your skin. And the overcast sky will not part just because you are craving light. At least there is no clear evidence that it would be otherwise. That’s how we see nature: as a world full of things, forces, and phenomena, which are what they are completely on their own, and they remain true to themselves in a certain way. In contrast to us humans, who constantly run ahead of the present and believe we can permeate, understand, and control things with the power of our consciousness. A pretense. What better indication of the borders of consciousness when not the fact that no knowledge in the world can ever take the wetness out of water? Perhaps the decisive step to be consummated in art and thought is therefore to recognize and clarify these borders: My consciousness ends here. At this line. And I do not cross this line. I draw it. And I touch it on my side. What touches this line on the other side I cannot say for sure. Only this much: As a border the line forms an interface, an axis on which dimensions meet, a kink in the world around which dimensions of reality can fold and unfold.

 

And what if you do know it? Know it far better than you think? It: the thing, the animal, the growth, the weather, organic and inorganic life. Why should the nature out there go silently about its business? After all, you are a part of it. And it permeates you constantly. Already when your feet get cold and the cold ground slowly creeps up into your body. Roger Caillois writes: “While light is eliminated by the materiality of objects, darkness is ‘filled’; it touches the individual directly, envelops him, penetrates him, and even passes through him”.[1] Like how you are permeated by radio waves. When you do not encounter the world as a foreign body but are in it, why then do we act as if it is an outside, as if a shroud lay over it behind which things live in hiding? As if we constantly called out “hide and seek!” while strolling through nature. But what if it doesn’t hide rather is within and outside us all of the time? Then we would have to learn to understand speculative physics.[2] Or make more art. For what is art when not – since primeval times, when it was still expressly understood as totem and fetish-making – the attempt to make contact with the forces of the material world? Making contact doesn’t mean translation between human and non-human languages (playing a color organ in front of aliens, deciphering ice crystal forms, or language training for cacti[3]). It doesn’t happen like negotiations between two parties. For the connection already exists as long as certain processes take place synchronously in different organisms and things. For instance, plants seem to respond to events in their environment. The pain of an organism in the proximity of a plant is reflected in its quantifiable excitations. In a comparable way electromagnetic frequency patterns can be measured in mustard seeds, which correspond exactly with those of the movement of planets.[4] Thus, if forces, impulses, affects, and oscillations have an effect parallel in the medium of different bodies then there is a type of multimedia mimicry in nature. What chills me to the bone might flow through the leaf veins of a plant in the same moment. And what makes the weather and puts clouds in the sky simultaneously magnetizes the electrons in my cerebral cortex. The music of the spheres sounds multitimbral with one superimposed voice.

 

There are equally as good reasons on hand for a cautious approach that delineates borderlines as for a speculatively empathetic approach to the nature of the world that retraces mimetic processes. And it is neither a question of choice nor of faith – both forms of knowledge exist today, one way or the other. The real challenge is to find ways of dealing with the fact that the cautious and the mimetic perspectives could be equally true.

 

The exceptional aspect in the work of Birgit Knoechl is that she opens herself as an artist to exactly this challenge! She enters into a sphere of activity – cautiously drawing lines while designing multimedia mimetic forms – where artifact and nature appear clearly disparate in one moment, whereas in the next they seem to be permeated by mimetic shape similarities, form and frequency resonances. Her approach to the claim of art to presentify the world is, on the one hand, tangible without any pretense. Her work doesn’t say: I am nature. Instead it openly says: I am ink on paper, cardboard, latex coating, silhouette and pattern, work in a medium, not a representation, not a rendering of the real. However, along this clearly drawn dividing line Knoechl allows parallel flows. A geometric object of folded paper or cardboard coated with latex then becomes an object of mathematical fetish magic. In this way it conveys an idea of what might be happening in this moment simultaneously and synchronously to Knoechl’s drawings and objects in other media of nature: in the geometry of things, in the fractal pattern of a plant’s growth, in the mutual overlaps of leaves, or in the rhythm of a membrane movement of an organism in the sea. There are no claims of a higher knowledge to be derived. Quite the opposite. What knowledge means in relation to the things of nature, the forms they can even take on, is a question that Knoechl’s work irrefutably poses when her skeptic agnostic trait comes to the fore, when the artifact closes in upon its meaning and gives you the feeling that you’re not going to know what this thing knows. A feeling that already in the next moment can turn into a risky inkling that your body knows certain forms, resonances, and rhythms better than your consciousness would admit. Risky? Because it probably couldn’t be proven with common means. And because Knoechl rejects the misguided choice between skepticism and mimicry and instead enters the space between them. It is her risk to make an art that clearly exposes the border to nature and at the same time suspends it in the multitimbral harmony of lines and materials with bodies, shapes, volumes, and forces. Without evidence and justification. But with the courage, instinct, and humor of an openness to ontological uncertainty – in other words, truly with the means of art.

 

Text by Jan Verwoert


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Translation: Peter Blakeney & Christine Schöffler


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015


 

[1] Roger Caillois, Mimicry and Legendary Psychasthenia, trans. John Shepley, 1984 [1935], accessed June 6, 2015, http://www.tc.umn.edu/~stou0046/caillois.pdf, p. 30.


[2] For example, in its philosophical interpretation by Karen Barad in: Meeting the Universe Halfway (Durham: Duke University Press, 2007). Thanks to Federica Bueti for reading it to me.


[3] Many para-scientific investigations relapse to the point behind their intuitions, where they once again approach the world of phenomena in a conventional way as an opposite that we could convey something to or elicit something from if we only possessed the code for the information transfer. Iconic examples are the welcoming address to aliens with a cybernetic color organ in Steven Spielberg’s Close Encounters of the Third Kind (1977), the interpretation of water crystal forms as a standardized symbolic language by Masaru Emoto, or scientist Ken Hashimoto’s attempts to teach Japanese to cacti as documented in the film The Secret Life of Plants (1979).


[4] Many convincing examples of such phenomena can be found in the book The Secret Life of Plants by Peter Tompkins and Christopher Bird (New York: Harper & Row, 1973) and the film adaptation by Walon Green (1979) as well as L. George Lawrence’s experiments with mustard seeds. Thanks to Birgit Knoechl for the tip about the book and film!

ARCHIVE I

Module

 

Versatzstücke, die einer strengen Logik aber nach alle Richtungen hin offenen Systematik folgen, facettenreich; Bausteine, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, um in dessen Endgültigkeit kontinuierlich in Bewegung zu bleiben.

Natürliche Konstruktionen und künstliche Figuren, im gleichen Maße gegeneinander wie miteinander.


              Hier eine knollenartige Pfropfung, dort zu einem dichten Netz verwoben, sich wieder verflüchtigend, dem Wind beugend, gleichermaßen in die Luft wie in die Erde wurzelnd, sich in alle Richtungen hin ausdehnend, ohne Begrenzung

         Haltlos.


                Hier trichterförmig, dort in hauchdünnen Schichten, das Umfeld verneinend und entgegen jeglicher Nomenklatur, mit sprossenartigen Waffen bestückt, resistent, kultiviert und wieder verwildert – eine durch und durch widerständige Praxis.

 

 

ARCHIVES I, II, III, IV

Living Archives

 

Organisch ist nicht nur die Formensprache, die Birgit Knoechl spricht. Organisch, ja geradezu lebendig sind auch die Archive, die sie aus ihrer Arbeit schöpft, die Archive, die sie durch ihre Arbeit hervorbringt, die sie mit ihrer Arbeit erzeugt – jene Archive, die in di­esem Buch vorliegen und zu einem neuem Archiv zusammengefasst sind.

Aspects of Growth.


Es handelt sich dabei um Konstellationen des Wissens, eines visuellen Wissens, um niemals alternde Speicher eines kollektiven Bildbewusstseins, um Zusammenfassungen und Konzentrationen, die jedoch stets temporär bleiben, kurzweilig, veränderlich, anpassungsfähig und widersprüchlich.

Der Wandel, der Umbruch und der Neubeginn sind Birgit Knoechl’s Archiven genauso eingeschrieben wie der Rückgriff auf Bekanntes, das Bewahren, das Konservieren. Auf Zeit angelegte Manifestationsformen kommen und gehen, kommen und gehen wieder.

Rhizomatische Strukturen.


               Raum besetzen.

Die Künstlerin sammelt Materialien, Formen und Inhalte, sie mischt sie, sie bringt sie durcheinander, sie ordnet sie nach ihren eigenen Standpunkten – nach dem Rhythmus, den das Material, die Form, der Inhalt von ihr verlangt. Birgit Knoechl’s Archive sind Sammlungen, Ansammlungen. Es sind verdichtete Anhäufungen, durch die die Künstlerin immer weitere, immer neue Narrative produziert, indem sie auf bestehende Erzählungen zurückgreift.

Birgit Knoechl erzählt von der Welt.


Die Künstlerin berichtet von den Versatzstücken, die die Welt hervorbringen, und von den Versatzstücken, die gleichermaßen von der Welt hervorgebracht werden. Module, systematisch einsetzbar, um dem System Paroli zu bieten – eine widerständige Praxis. Die Künstlerin erzählt von Mischformen, die Vertrautes zu neuen Kategorien verschmelzen, Hybride, die für das Moment der Verbindung stehen und zur Gänze in der Fusion aufgehen.

Sie verhandelt Grundformen und ihre facettenreichen Aggregatzustände, ohne sich auf Formen und Zustände zu kaprizieren – denn die Reflexion darüber ist immer erst im Werden begriffen. Line_Shape. Birgit Knoechl macht Schnittstellen sichtbar, sie konstruiert Interfaces, organische, gewachsene, körperliche Membrane, die als Phänomen des Übergangs zur Lebendigkeit ihrer Arbeit beitragen – zu ihren lebendigen Archiven.

 

 

ARCHIVE II

Hybrid

 

Mischformen, die aus Bekanntem Neues generieren; ein Zusammenwurf vertrauter Formen, deren einzelne Bilder durch ihre Differenz zu vibrieren beginnen, scheinbar willkürlich und vermeintlich gewollt; wärmende Fusionen und kühlende Kombinationen; kluge Bündnisse, zweckdienliche Gemeinschaften, aus einem Impuls heraus entstandene Liaisonen; Gebündeltes, Gekreuztes, Verschmolzenes.

Mehr als zwei Seelen in einer Brust.


              Hier ein Schatten spendender Baldachin, dort spitzblütig, ungleichblättrig und lichtdurchlässig, dem festen Tritt der Spaziergängerin stets untergeordnet, weich und samtig mit umso klarer konturierter Architektur, mehrteilig, seriell. Hier im Moment des Entstehens, zart im Wachsen begriffen, dort in der vollen Blüte des Lebens, bereitwillig und ausladend – im Moment der Verbindung angekommen.

 

 

ARCHIVE III

Line_Shape

 

Grundformen und Aggregatzustände: Grundformen, die sich wiederholen, Grundformen, die variieren; Aggregatzustände, die sich wiederholen, Aggregatzustände, die variieren; Körper mit Ecken, Kanten und Flächen; Gebilde aus Linien, die sich aus ihrer Begrenzung zu lösen versuchen und in den Raum drängen.

Kristallisationskeime.


Bewegungsenergie, Anziehungskraft und Abstoßung; biomorphe Architekturen und architektonische Biologie; Schicht für Schicht, verdichtet und verfremdet, eine Form ergibt die andere, ein Zustand jagt den nächsten.

Wachstum.


Hier radialstrahlig, stängelig und nadelig, dort trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, buschig. Hier zylindrisch, würfelig, prismatisch, dort schuppig, blättrig, der Form des Glimmer entsprechend – Handlungen, im Werden begriffen.

 

 

ARCHIVE IV

Interface

 

Schnittstellen, die filigraner nicht sein könnten; Membrane, durchlässig, undurchlässig, semipermeabel und Grenzflächen in Schwingung versetzend; Zwischenstücke, die die eine von der anderen Seite trennen wie sie die beiden Seiten miteinander in Beziehung setzen; obsolete Benutzeroberflächen, die aus ihrem Kontext gerissen wurden, Benutzeroberflächen, die ihrer Schaltzentrale abhanden gekommen sind, die sich nicht verabschiedet haben, die jetzt ihr eigenes Leben leben.

Brücken, Stege und Verbindungslinien.


              Hier vor wenigen Minuten noch Mitten in der Funktion, dort die Wurzeln ausgefahren, jedoch ohne sich jemals wieder festsetzen zu wollen. Hier eine Sollbruchstelle, dort auf Tuchfühlung mit immer neuen Möglichkeiten, offene Wunden und Nähte – Phänomene des dauerhaften Übergangs.

 

 

Text by Franz Thalmair


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

ARCHIVE I

Module

 

Elements that follow a strict logic yet an open system in all directions, multifarious; building blocks that coalesce into a whole only to remain in constant motion in its definitive state.

Natural constructs and artificial figures, with and against one another to the same degree.


Here a tuberous graft; there a tightly woven web, dissipating once again, curtsying to the wind, rooted both in the air and the earth, expanding in all directions, without borders.

Relentless.


Here funnel-shaped; there razor-thin layers, negating the surroundings and contrary to all nomenclature, fitted with scion-like weapons, resistant, cultivated, and running feral again – through and through a resistant practice.

 

 

ARCHIVES I, II, III, IV

Living Archives

 

Organic not only describes the formal language that Birgit Knoechl speaks. Organic, when not living, are also the archives that she draws from her work, the archives that she brings forth through her work, that she generates with her work – those archives presented in this book and compiled into a new archive.

Aspects of Growth.


They are constellations of knowledge, a visual knowledge, never-aging reservoirs of collective image consciousness, condensations and concentrations, which – however – always remain temporary, ephemeral, variable, adaptable, and contradictory.

Change, upheaval, and new beginnings are equally inscribed into the archives of Birgit Knoechl as are resorts to the familiar, preservation and conservation. Fleeting manifestations come and go, come and go.

Rhizomatic structures.


Occupy space.


The artist collects materials, forms, and contents; she mixes them, confounds them; she orders them according to her own points of view – according to the rhythm that the material, form, and content ask of her. Birgit Knoechl’s archives are collections, aggregations. They are condensed accumulations the artist employs to produce evermore new narratives by drawing from existing stories.

Birgit Knoechl tells of the world.


The artist reports on the elements that institute the world and likewise on the elements that are instituted by the world. Modules, systematically deployable to counter the system – a resistant practice. The artist tells of mixed forms that conflate the familiar into new categories, hybrids that stand for the aspect of connection and merge completely in the fusion.

She negotiates basic forms and their multifaceted aggregate states without insisting upon forms and states – for the reflection upon them is always nascent. Line_Shape. Birgit Knoechl makes interfaces visible; she constructs organically grown physical membranes, which contribute to the liveliness of her work – to her living archives – as phenomena of transition.

 

 

ARCHIVE II

Hybrid

 

Mixed forms that generate something new from the familiar; a culmination of common forms whose individual images begin to vibrate in their difference, apparently random and supposedly intentional; warming fusions and cooling combinations; astute alliances, expedient collectives, liaisons forged by an impulse; bundled, crossed, fused.

More than two souls in one chest.


Here a shadowing baldachin; there sharp-flowered, unevenly leafy and translucent, always subordinate to the firm tread of the walker, soft and velvety with all the more clearly contured architecture, multi-part, serial. Here in the moment of emergence, conceived in delicate growth; there in the full blossom of life, willing and expansive – harbored in the moment of connection.

 

 

ARCHIVE III

Line_Shape

 

Basic forms and aggregate states: basic forms that repeat, basic forms that vary; aggregate states that repeat, aggregate states that vary; bodies with corners, edges, and surfaces; entities of lines trying to disengage their limitations and surge into space.

Seeds of crystallization.


Kinetic energy, attraction and repulsion; biomorphous architecture and architectonic biology; layer for layer, condensed and alienated, one form leads to the other, one state pursues the other.

Growth.


Here radial, stalky, and needle-like; there grape or bud-like, bulbous, bulging, bushy. Here cylindrical, cubic, prismatic; there scaly, leafy, following the form of mica – actions in progress.

 

 

ARCHIVE IV

Interface

 

In-betweens that couldn’t be more filigree; membranes, permeable, impermeable, semi-permeable, and setting boundary surfaces in oscillation; intermediates separating one side from the other while correlating both with each other; obsolete user interfaces extracted from their context, user interfaces their control center lost, haven’t been discharged, and now live their own life.

Bridges, links, and connecting lines.


Here totally functional just a few minutes ago; there the roots have been pulled out, yet with no desire of ever sticking them back in. Here a predetermined breaking point; there close contact with continuously new prospects, open wounds and sutures – phenomena of permanent transition.

 

Text by Franz Thalmair


Translation: Peter Blakeney & Christine Schöffler


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

Entspannte Anspannung

Gewebe der Welt

 

Out of control – the autonomy of growth: Im Werk von Birgit Knoechl trifft performative Intensität auf subtile dramaturgische Akzentuierung. In Raumabschnitten hängen die gleich einer zellularen Vervielfältigung wuchernden Installationen, die in ihrer sich durch Licht- und Schattenwirkung erweiternden Präsenz den Raum transformieren.

Durch Neonröhren wird die Installation „out of control – the autonomy of growth_0II” (2007) in Birgit Knoechls Studiopräsentation am Bauernmarkt von unten beleuchtet. Es ist ein künstlerischer Akt, der sich jeder räumlichen Tarnung entzieht, sich einer Art suspendierenden Dialektik zuwendet. Die großformatigen Installationen von Birgit Knoechl greifen und produzieren Raum, treten der vorgefundenen Architektur in Studio- und Ausstellungsräumen offensiv, raumkonstituierend entgegen. Die Arrangements entfalten sich aus Cut_outs von bis zu fünfzehn Meter Länge. In den Produktionsablauf fließen durch die Performativität der modulartigen Herstellung, welche mit der zu produzierenden räumlichen Situation als Environment proportional interagiert, Methoden des Spacings ein. Dabei handelt es sich um eine Methode, die auf die Prozesshaftigkeit in der Herstellung von Räumen verweist. Spacing benennt und markiert den komplexen Formierungsprozess von Räumen.

Gleichzeitig wird ein interventionistisches Cutten räumlicher Strukturen bewirkt. Die Installation „out of control_revisited – the autonomy of growth_0IV” (2006-08/2012) in der Albertina entfaltet ihre Wirkung aus der Raumecke, ist von oben mit Lichtspots beleuchtet. Als Betrachter_Innen gelangen wir im Ausforschen der Gesamtdisposition, im Verlangen diese in den Blick zu bekommen, durch das Zurücktreten in ein dynamisches Gewebe, ein visuelles, räumliches Spiel und in eine unterschwellige räumliche Verschiebung.

In seinem Buch „Poetik des Raumes“[1] befasste sich der französische Philosoph Gaston Bachelard mit der „Topophilie“ mit der Analyse des glücklichen Raumes. Die Erfahrbarkeit des Raumes, erlebbare Ausgedehntheiten, menschliche Raumvorstellungen, imaginiertes Sein, Räume, die Charakteristiken von Zufluchtsorten annehmen, bilden dabei relevante Bezugspunkte. In der Psychoanalyse werden solche örtlichen Verräumungen (meist in Zusammenhang mit Erinnerungsbildern) „Topos-Analyse“ genannt. Dies bedeutet auch, den Raum als erfahrbares Etwas samt seiner Indifferenzen zu untersuchen und zu vergegenwärtigen.

 

Birgit Knoechl operiert mit performativ erweiternden ästhetischen Parametern, um uns von einer wilden Seite hin zu einer offenen Form des Kunstfühlens zu animieren. Den Ausgangspunkt dazu bilden kunsthistorische und theoretische Recherchen wie zum Beispiel zu Fragen der Performativität.

Der Ausdruck performativ wurde durch den Philosophen John Langshaw Austin in die Sprachtheorie Mitte der 1950er Jahre eingeführt. Austin erfand den Begriff, um damit auf den Handlungscharakter des Sprechens zu verweisen und um aufzuzeigen, wie sich im Vollzug des Sprechens auch eine außersprachliche Wirkung zeigt. 1955 hielt er darüber einen Vortrag an der Harvard University, eine Publikation folgte.[2]

Übertragen auf den künstlerischen Prozess äußert sich im Performativen die realitätserzeugende Dimension des Kunstwerks.

Ein Hang zum Anti-Establishment dringt durch. Kann Kunst kritisch sein, nachdem sie zur besten Freundin des Kapitalismus geworden ist? In den Disziplinargesellschaften von gestern waren Machtstrukturen „körperlich“. Sie waren sicht- und fühlbare Autorität, die sich normierend auf Verhaltensmuster auswirkte. Anders verhält es sich mit der postdisziplinären Gesellschaft, hier wirkt die Autorität nicht mehr von Außen, sondern subtil „von innen“ – die Macht sorgt dafür, dass die von ihr Betroffenen genau das wollen, was sie sollen. In der Publikation „Kreation und Depression“[3] liefern Christoph Menke und Juliane Rebentisch Schlüsseltexte zur postdisziplinären Gesellschaft. Eine ihrer Kernfragen lautet: Wenn die neoliberale Konkurrenzgesellschaft ihr normierendes Rollenmodell am Bild der kreativen Künstlerin („Selbstverwirklichung“) gewinnt – was wird dann aus der Kunst als Feld des zweckfrei Ästhetischen im kantischen Sinn, verkümmert Kunst zum Cheftrainer der Einbildungskraft, wie es Michael Makropoulos nannte? Diesem Vakuum tritt Birgit Knoechl in ihrer Kunst durch eine Unangepasstheit und einen Widerwillen entgegen, appelliert an die Existenz des postautonomen Subjekts und dessen Potenzial aus dem Chaos zunehmend einengender neoliberaler Lebensstile herauszutreten.

 

Das Wiederholen der Phrase „out of control“ in den Titeln ihrer Installationen ist also kein Zufall. Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität von Interaktionen unsere Aufnahme- und Vorstellungsfähigkeit übersteigt.

Out of control – Außer Kontrolle als politischer Terminus beschreibt ein Demonstrationskonzept, bei dem Teilnehmer_Innen von Demonstrationen versuchen, sich mehrfach zu zerstreuen und sich an anderer Stelle erneut zu sammeln, um die Grenzen zwischen Demonstrationszug und Umgebung aufzulösen. Das Konzept „out of control“ basiert auf einer dezentralen Organisationsstruktur und unkontrollierten Bewegungen.

Etymologisch stammt der Begriff „Kontrolle“ aus dem französischen „contrôle“, in älterer Schreibweise „contrerolle“, „contre“ – „gegen“ und „rôle“– Rolle, Register, Liste. Die „Contre Role“ bezeichnet ursprünglich ein „Gegenregister zur Nachprüfung von Angaben eines Originalregisters“. Kontrolle abgeleitet vom Register ist externalisiertes Gedächtnis und der Versuch mithilfe eines Archivs die Zukunft durch die Erwartungswerte der Vergangenheit zu ersetzen. Im Sinne Jacques Deleuzes wäre eine Kontrollgesellschaft eine Gesellschaft der Vorhersagbarkeit – eine Gesellschaft ohne Zukunft – das heißt ohne Ereignis. Durch gegenwärtige Datenflüsse finden enorme Verschiebungen statt. Anstelle einer Archivologie tritt heute eine Queryology, eine Wissenschaft der Abfragesysteme.

Wer persönliche Daten in soziale Netzwerke wie Facebook eingibt, weiß weder zum Zeitpunkt des Eingebens noch später genau, von wem die Daten genutzt werden. Daten aus Social Networks werden in Massen weitergegeben, verschlüsselte Verbindungen geknackt. 2013 ging als das Jahr der Datenschmelze in die Geschichte ein.[4] Ein Phänomen, das Forscher als das Privacy-Paradox bezeichnen, manifestiert sich hier. Obwohl der Schutz von Privatsphäre als sehr wichtig empfunden wird, wird wenig dafür getan. Gegenüber einer exakten Planung und dem Drang, durch Ordnungsmethoden Kontrolle über Systeme und Materialien zu gewinnen, liegen die Chancen sich in einen Dialog mit Phänomenen des Kontrollverlusts einzulassen, darin, durch diesen Moment aus der vorgefundenen oder der durch gewisse Beziehungen und Abläufe verhandelten Realität herauszutreten bzw. zeitliche Transfers vorzunehmen, um konstruktive, unerwartete Eingriffe zu setzen.

 

Birgit Knoechl unterzieht ihre Motive einer räumlichen Erweiterung, variiert ihr als Module angelegtes Formenvokabular.

Zuerst entsteht eine Tuschezeichnung in unterschiedlichen Lagen und Nuancierungen. Das in mehreren Schichten bearbeitete Papier gewinnt mittels der durch tiefschwarze Tusche erzeugten opaken Materialität an Haptik und betont – kaum visuell in seiner Gesamtheit fassbar – die Lebendigkeit des Papiers als Material.

Im Laufe der Jahre hat Birgit Knoechl zunächst ausgehend vom japanischen Ornament ein enormes Konvolut an Papierarbeiten geschaffen. Beginnend mit Cut_outs in Kombination mit Zeichnungen, entwickelt sich ein Arbeiten mit organischen Linienstrukturen und geometrischen Formen. Von organischen, rhizomatischen, biometrischen zu fraktalen, kristallinen, geometrischen Formen ausgehend und der Hinterfragung, wie diese zueinander in Beziehung gebracht werden können.

Variationen in der Wiederholung der formalen Grammatik, Verschiebung und ein auf Veränderung zielendes fluides Agieren treffen aufeinander. Birgit Knoechl hat sich durch laborhafte Durchgänge ein Maß an Freiheit erarbeitet. Mit ihren Cut_outs öffnet sie den zweidimensionalen Raum des Mediums der Zeichnung, wendet Methoden des Samples und Re-Samples an, nimmt eine Neu- und Re-definierung der Linie in der Zeichnung durch den Cut vor, gestaltet Raumzeichnungen hautnah, definiert Felder der Passagen des Dazwischens. Birgit Knoechl nützt jenes “Vergegenwärtigungspotenzial der Linie”, von dem der Kunsthistoriker Max Imdahl schrieb.

Der zeichnerische Fluss tritt in eine performative Dualität. Der künstlerische, performative Prozess ist ein sehr intimer, in sich kreisender, tanzender Vorgang, der körperliche Bewegungsrhythmen, haptische Abläufe einbezieht. Diesem Prozess unterliegt eine gewisse Faszination für biomorphe, netzwerkartige Strukturen in Papier, dessen Schwärze trotz Fragilität des Materials gleichzeitig in den zahlreichen Überblendungen eine detonierende Wirkung hybrider Formen zeigt.

Birgit Knoechl kreiert eine Art Garten von Eden, tritt jeder Hysterie kosmischer Verwünschungen entgegen, nimmt durch die Schwingungen ihrer Installationen eine Entblößung anarchischer Ambiguität vor, die in ihren Anspielungen die Rezipient_Innen in den Bann ziehen. Gleichzeitig bietet Birgit Knoechl unterschiedliche Lesearten zu Form und Bedeutung des Mediums, lässt eine performative Ethik durchdringen. In ihrer physischen, vitalen Präsenz überwältigend, wirken die Installationen offen und durchlässig, gewähren Zugang zum Prozess eines andauernden Befragens dessen, wie anstelle euklidischer Raumkonstruktionen und deren unterschwelligem Verhältnis zur Macht andere Raumwahrnehmungsmodelle treten.

Losgelöst von einer linearen Zeitlichkeitsentwicklung gewinnen die Installationen von Birgit Knoechl eine zeitlose Konsistenz, werden von der Zeit entkoppelt. Raum wird als agiles Element in einem dialektischen Kontext veranschaulicht und erfahrbar gemacht als Spirale des Seins, die sich zum Mittelpunkt hin und vom Mittelpunkt weg bewegt. Das Sein lässt sich nicht fixieren. Im Gegenübertreten entstehen Gewebe der Welt, die eine Skepsis gegenüber jeder Autorität einer kontrollierten Aussage beansprucht, eine klare Ablösung von einem euklidischen Raumverständnis evoziert.

 

Text by Ursula Maria Probst


published iin ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015


 

[1] Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987 [1957].

[2] John Langshaw Austin, How to Do Things with Words, Harvard University Press, Cambridge, MA 1962.

[3] Christoph Menke und Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2011.

[4] Vgl. Michael Seemann, „Die Privatsphären-Falle“, ZEIT ONLINE, 9.10.2013, abgerufen am 18.08.2015, http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2013-10/privatsphaere-ueberwachung-nsa-seemann.
Relaxed Tension
Fabrics of the World

 

Out of control – the autonomy of growth: In the work of Birgit Knoechl performative intensity meets subtle dramaturgical interventions. Burgeoning installations reminiscent of cellular reproduction hover in sections of rooms, transforming the space with a presence intensified by light and shadow.

The installation “out of control – the autonomy of growth_0II” (2007) in her Bauernmarkt studio presentation in Vienna is lit from below by neon tubes. It is an artistic act that revokes all forms of spatial camouflage and points to a suspended dialectic. Birgit Knoechl’s large-format works intervene in the space while producing it; they ostentatiously confront and shape the found architecture of the studio and exhibition spaces. Up to fifteen-meter-long cut_outs intertwine into these arrangements. Spacing methods flow into the performative, module-like production process, interacting proportionately with the emerging spatial situation as an environment. It is a method that refers to the complex processual quality in the creation of spaces. At the same time it achieves an interventionist cutting of spatial structures. The installation “out of control_revisited – the autonomy of growth_0IV” (2006–08/2012) in the Albertina unfolds its effect from the corner of a room, illuminated from above by light spots. By examining the overall arrangement, striving to attain a complete overview, by stepping back, we as observers enter into a dynamic fabric, a visual-spatial game, and into a subliminal spatial shift.

In his book The Poetics of Space the French philosopher Gaston Bachelard deals with “topophilia”, with the analysis of spaces of bliss. The perception and notion of space, the experiential dimensions, the imaginary, spaces that take on the quality of a refuge form important reference points. In psychoanalysis such spatializations (usually in connection with visual memories) are called “topoanalysis”. This also implies investigating and envisioning space as something experiential along with its indifferences.

 

Birgit Knoechl works with performatively augmented aesthetic parameters to animate us from a “wild side” to an open experience of art. Her departure point draws from art historical and theoretical research, such as questions of performativity.

The expression “performative” was introduced into language theory by the philosopher John Langshaw Austin in the 1950s. Austin coined the term to refer to the active character of speech and to illustrate how an extralinguistic effect also manifests in speech acts. In 1955 he held a lecture on the subject at Harvard University and a publication followed. Transferred to the artistic domain, the performative expresses the reality constituting dimension of an artwork.

Here a tendency toward anti-establishment surfaces. Can art be critical after its has become the best friend of capitalism? Power structures were “physical” in the disciplinary societies of yesterday. They were visible and tangible authority, which had a normalizing effect on patterns of behavior. It works differently in a post-disciplinary society: Authority is no longer imposed from the outside rather subtly “from within” – the power ensures that those effected by it want exactly what they should want. In the publication Kreation und Depression (“Creation and Depression”) Christoph Menke and Juliane Rebentisch provide key texts on post-disciplinary society. One of their core questions: If the neoliberal competitive society draws its standardizing role model from the image of the creative artist (“self-fulfillment”), what then becomes of art as a field of pure aesthetics in the Kantian sense? Does it atrophy into the head coach for the power of imagination, as Michael Makropoulos states? In her art Birgit Knoechl opposes this vacuum with a non-conformity and an unwillingness, calling upon the existence of a post-autonomous subject and its potential to step out of the chaos of increasingly restrictive neoliberal lifestyles.

 

Hence, the repetition of the phrase “out of control” in the titles of her installations is no coincidence. A loss of control happens when the complexity of interactions surpasses our receptivity and imagination.

As a political term “out of control” describes a demonstration concept in which demonstrators try to scatter a number of times and regroup at other locations in order to dissolve the borders between the demonstration march and the surroundings. The concept “out of control” is based on a decentralized organizational structure and uncontrolled movements. Etymologically the term “control” originates from the French “contrôle”, in the old spelling “contrerolle”: “contre” being “counter” and “rôle” a roll, registry, list. The “Contre Role” initially meant keeping a duplicate registry or roll to check the data of an original. Control derived from the registry is externalized memory and the attempt to replace the future with the expected values of the past with the help of an archive. In keeping with Jacques Deleuze, a control society would be a society of predictability, a society without a future – that means without events. Contemporary flows of data are causing enormous shifts. Today archivology has made way for a queryology, a science of query retrieval systems. Whoever submits personal data in social networks like Facebook doesn’t know at the point of submission or afterwards who is going to use the information. Data from social networks are passed on in massive volumes, encrypted connections cracked. 2013 went down in history as the year of data breach. A phenomenon that researchers call the privacy paradox manifests here. Although the protection of the private sphere is found to be very important, little is being done to this end. Faced with exact planning and the itch to gain control over systems and materials through ordering methods, the opportunities in opening oneself to a dialogue with the phenomena of losing control lie in stepping out of the existing reality or one negotiated through certain relationships and procedures and performing temporal transfers to create constructive, unexpected interventions.

 

Birgit Knoechl subjects her motifs to spatial expansion, varying her formal vocabulary built on modules. First an ink drawing is made with different layers and nuances. Worked over in numerous layers, the paper attains a haptic dimension through the opaque materiality created by the deep black ink, which emphasizes – hardly visible in its entirety – the vibrancy of the paper as material. Over the course of the years she has created an immense number of paper works, initially based on Japanese ornament. Beginning with cut_outs in combination with drawings, a work developed with organic line structures and geometric forms – from organic, rhizomatic, biometric to fractal, crystalline, geometric forms and the exploration of how these can be brought into a relationship with one another. Variations in the repetition of the formal grammar, shifts, and a fluid act aimed at change converge. Birgit Knoechl has earned a degree of freedom through her laborious work cycles. In her cut_outs she opens up the two-dimensional realm of the medium of the drawing, applies the methods of sampling and resampling, performs a new and redefinition of the line in the drawing through the cut, crafts room drawings right in front of the eye, defines fields of passage in the interstitial. She exploits the line’s potential to “presentify”, which art historian Max Imdahl describes.

The graphic flow enters into a performative duality. The artistic, performative process is a very intimate, self-encircling dancing act, which incorporates physical movement rhythms and haptic sequences. This process is subject to a certain fascination for biomorphic, network-like structures in paper whose blackness exhibits a detonating effect of hybrid forms in the numerous superimpositions, despite the frailty of the material.

Birgit Knoechl cultivates a kind of Garden of Eden, opposes all hysteria of cosmic malediction, and exposes anarchic ambiguity through the oscillations in her installations, which fascinate recipients with their allusions. At the same time, she offers different interpretations of the form and meaning of the medium and suggests a performative ethic. Overwhelming in their physical, vibrant presence, the installations seem open and permeable, providing access to the ongoing investigations on how to replace Euclidean spatial constructs and their inherent relationship with power with other models of perceiving space.

Liberated from a linear temporal development, the installations by Birgit Knoechl attain a timeless consistency; they are disconnected from time. Space is demonstrated as an agile element in a dialectic context and made tangible as a spiral of being, rotating toward and away from the center. Being has no fixed location. In confrontation emerge fabrics of the world, which demand skepticism toward every authority of a controlled statement and evoke a clear detachment from a Euclidean understanding of space.

 

Text by Ursula Maria Probst


Translation: Peter Blakeney & Christine Schöffler


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

ASPECTS OF GROWTH

PROLOG

 

Das Wuchernde ist so tödlich wie lebensspendend. Das Wuchernde ist außer Kontrolle. Die Pflanzenkörper brechen aus Ecken hervor, lauern dem Zuschauer auf, überziehen Saalwände, winden sich aus Belüftungsrohren, überschreiten Grenzen. Die Installationen Birgit Knoechls sind eine bedrohliche Naturgewalt. Der üppig barocke Schwarzweißdschungel überfordert und verführt, erschrickt und lockt. Sattschwarze kompakte Arbeiten, die an Mutationen zwischen Insekt und Pflanze gemahnen, überwiegend in weiß gehaltene zarte Cut_out Objekte, spielerisch in Licht und Schatten. Das Wachstum ist im ureigensten Sinn als work in progress zu verstehen: Installationen unterschiedlichster Größen entstehen allesamt aus einem modularen System. Doch manchmal nimmt die Arbeit auch den umgekehrten Weg, nicht den der urknallhaften Ausbreitung, sondern den des Rückzugs in die Wunderkammer der Renaissance: sicher hinter dem Glas kleiner Schaukästen in Zaum gehaltene Pflänzchen, filigran und zerbrechlich, beispielsweise in langen Reihen eines beeindruckenden Pflanzenarchivs auf Museumswände gebannt. Dann wieder kleine, streng dezente Tuschezeichnungen, die mit den kantig kristallinen kompakten Objekten kontrastieren. Zurückhaltung und Explosion: das sind die beiden Pole, zwischen denen Birgit Knoechls Arbeit oszilliert. Zwischen Science-Fiction-Film und historischem Archiv: ein Alpha und Omega ist diese Zähmung und ihr Gegenspieler, das ekstatische Wachstum.

 

Text by Julya Rabinowich


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

ASPECTS OF GROWTH

Prologue

 

Rampant growth is just as deadly as life-giving. Growth out of control. Phytobodies spurt from the corners, ambush the viewers, cloak the walls, writhe out of ventilation pipes, cross borders. Birgit Knoechl’s installations are menacing forces of nature. The baroque black and white jungle overwhelms and seduces, terrifies and entices. Compact pitch-black works, reminiscent of mutations between insects and plants, delicate predominantly white cut_out objects, playful in light and shadow. By definition this growth is a work-in-progress: installations of all different shapes and sizes evolve from a modular system. But sometimes the works take the opposite path, not Big Bang proliferation but a retreat into the Renaissance chamber of wonders: plants safely kept behind the glass of little display cases, filigree and fragile, banished into long rows of an impressive plant archive on museum walls. In turn, the austere and discreet, small ink drawings juxtaposed with edged crystalline objects. Restraint and explosion: These are the two poles between which Birgit Knoechl’s work oscillates. Between science fiction film and historical archive, alpha and omega, taming and its opponent, ecstatic growth.

 

Text by Julya Rabinowich


Translation: Peter Blakeney & Christine Schöffler


published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

Aggregatzustände

Birgit Knoechls Werkserie shape of the black line

 

Radialstrahlig, stängelig, nadelig, trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, zylindrisch, würfelig, prismatisch – die Attribute, die zur Beschreibung von kristallinen Formen dienen, weisen auf ihre Lebendigkeit hin. Im Unterschied zu biologischen Organismen wie etwa Pflanzen, Tieren oder Menschen, die sich erst unter Zufuhr von Energie entwickeln können, hat die Bildung von Kristallen mit der Einsparung eben dieser Energie zu tun. Wechseln die feinstofflichen Bauteile von Kristallen vom gasförmigen in den festen Zustand, so verringert sich ihre Bewegungsenergie, Anziehungskräfte werden wirksam und sobald sich ein erster Kristallisationskeim gebildet hat, verdichtet sich weitere Materie durch permanente Wiederholung des Grundmusters. Es sind Körper mit Ecken, Kanten und Flächen, in die der Kristallisationsprozess schließlich mündet – Wachstum. Es sind auch die gewachsenen Grundformen der Natur, die den Ausgangspunkt für Birgit Knoechls Werkserie shape of the black line bilden. Bei ihren Objekten handelt es sich um Karton, den die Künstlerin zu kristallinen Gebilden faltet, klebt und mit schwarz getuschtem Latex beschichtet. Sowohl die Haptik als auch die Optik des darunter liegenden organischen Materials – Papier – wird Schicht für Schicht verdichtet und verfremdet. Knoechls präzise mit dem Lineal gezogene Zeichnungen von kristallinen Gebilden, entstehen parallel dazu. Die Zeichnungen und Objekte sind zwar niemals deckungsgleich, in Analogie zur natürlichen Kristallisation wiederholen sich jedoch einzelne Formen und spiegeln Knoechls fortwährendes künstlerisches Bestreben wider, die zeichnerische Linie aus ihrer Zweidimensionalität zu befreien und in den Raum zu überführen. Eine Form ergibt die andere, eine Fläche schmiegt sich an eine weitere und erzeugt eine Ecke, deren Winkel wiederum als Ausgangspunkt für weitere Formen dient und monumentale Skulpturen aus dem Papier wachsen lässt. Fasziniert von skurrilen Architekturen zitiert Birgit Knoechl mit shape of the black line das Formenvokabular des Konstruktivismus, sie moduliert mit ihren Objekten die biomorphen Architekturen eines Buckminster Fullers, sie variiert mit ihren Zeichnungen die isometrische Linienführung eines Sol LeWitts. Mit Rückgriff auf kollektives Wissen über die natürliche Formenvielfalt verleiht Birgit Knoechl der Linie sprichwörtlichen wie buchstäblichen Raum und gibt diesen in ebenso variablen wie manifesten Aggregatzuständen wieder – radialstrahlig, stängelig, nadelig, trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, zylindrisch, würfelig oder prismatisch – oder als einen der variantenreichen Seinszustände dazwischen.

 

Text by Franz Thalmair


erschienen zur Ausstellung „A vol d’artiste, Salzburg – Luxemburg“
Espace Monterey/L – Galerie im Traklhaus/A
editor: Galerie im Traklhaus
2011

Aggregate states

Birgit Knoechl’s series shape of the black line

 

Radial, stalky, needle-like, grape or bud-like, tuberous, cylindrical, cubic, prismatic – the characteristics, which describe crystalline forms point at the same time to the liveliness of those forms. Differing from biological organisms like plants, animals or human beings, which need energy to develop, the formation of crystals implies the recovery of energy. When the fine particles, which make up crystals change from the gaseous to the solid state their energy of motion decreases, attraction forces become dominant, and – as soon as a crystal nucleus has formed – condense into permanent repetitions of basic structural elements. The crystallisation process finally results in bodies with corners, edges and faces – similar to growth. It is such a collection of basic building blocks of nature, which constitute the starting point of Birgit Knoechls series shape of the black line. Her objects are made from cardboards, which the artist forms into crystalline shapes by folding, gluing and covering them with layers of black-inked latex. Both the haptic and optic properties of the organic material underneath – paper – are condensed and transformed layer by layer. Similar to her objects, Knoechl precisely draws crystalline forms with the ruler. While the drawings are never the same as the objects, the basic elements are repeated as in the process of crystallisation, reflecting Knoechl’ s artistic intention to liberate the drawn line from two-dimensionality into space. One from turns into another, a face cuddles in another, creating an edge which itself forms the starting point for additional structures and monumental sculptures, growing out from paper. Being inspired by grotesque architectures, Birgit Knoechl refers in shape of the black line to the vocabulary of constructivism, with her objects modulating Buckminster Fuller’ s biomorphic architectures and her drawings varying the isometric lines by Sol LeWitt. Taking recourse to the collective knowledge about the variety of natural forms, Birgit Knoechl gives the line space which she reproduces in variable and manifest aggregated states - radial, stalky, needle-like, grape or bud-like, tuberous, cylindrical, cubic, prismatic - or in any possible intermediate state.

 

Text by Franz Thalmair


published to the exhibition „A vol d’artiste, Salzburg – Luxemburg“
Espace Monterey/L – Galerie im Traklhaus/A
editor: Galerie im Traklhaus
2011

Etats d’agrégation

(Sur shape of the black line, de Birgit Knoechl)

 

Pour la description de structures cristallines, les référents ne manquent pas, qui tous renvoient à de la vivacité, tantôt évoquant un rayonnement, un bourgeonnement, un renflement, ou encore un mouvement d’aiguilles, tantôt suggérant des grappes, des bulbes, des formes cylindriques, cubiques ou prismatiques. Au contraire des organismes biologiques, plantes, animaux, êtres humains, dont le développement est assuré par l’apport d’énergie, la formation des cristaux se fait justement par l’économie de cette même énergie. Du moment que les éléments des cristaux passent de l’état de gaz à celui de solide, leur énergie dynamique diminue, des forces d’attraction opèrent, et dès qu’un germe de cristallisation s’est formé, la matière continue à se densifier par une incessante répétition du même schéma initial. Et le processus de cristallisation d’aboutir à des corps possédant des angles, des arêtes, des surfaces – en fait de la croissance. Ce sont exactement les formes premières de la croissance dans la nature qui sont à l’origine de la série d’œuvres shape of the black line de Birgit Knoechl. Les objets en sont faits en carton, que l’artiste plie pour obtenir des formations cristallines, elle colle et recouvre de latex noirci avec de l’encre. La texture comme l’apparence du matériau sous-jacent, en l’occurrence le papier, sont ainsi détournées et cachées par nombre de couches. Certes, les dessins et les objets ne sont jamais tout à fait identiques, en analogie toutefois avec les cristallisations dans la nature, telles formes se répètent et rendent compte du dessein artistique de Birgit Knoechl, qui est de sortir la ligne, le trait des deux dimensions et de leur faire investir l’espace. Une forme passe à l’autre, les surfaces se rejoignent, forment des angles d’où naissent d’autres formes, et des sculptures monumentales croissent hors du papier. Birgit Knoechl est fascinée par les architectures cocasses, dans shape of the black line elle cite le vocabulaire formel des constructivistes, module dans ses objets les architectures biomorphiques d’un Buckminster Fuller, varie dans ses dessins la ligne isométrique de Sol LeWitt. Dans le recours à un savoir collectif de la diversité multiple des formes dans la nature, Birgit Knoechl apporte à la ligne de l’espace, au sens propre comme au sens figuré, espace qu’elle manifeste dans autant d’états d’agrégation – tantôt évoquant un rayonnement, un bourgeonnement, un renflement, ou un mouvement d’aiguilles, tantôt suggérant des grappes, des bulbes, des formes cylindriques, cubiques ou prismatiques – comme dans leurs stades intermédiaires.

 

Text by Franz Thalmair


Translated by Lucien Kayers


 

published to the exhibition „A vol d’artiste, Salzburg – Luxemburg“
Espace Monterey/L – Galerie im Traklhaus/A
editor: Galerie im Traklhaus
2011


Kontrollverlust
Anmerkungen zur Arbeit von Birgit Knoechl

 
„Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet.“ (Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Merve-Verlag, Berlin, 1997, S. 36)

 

Hier eine knollenartige Pfropfung, dort zu einem dichten Netz verwoben, ausgefranst und sich dem Wind beugend, gleichermaßen in die Luft wie in die Erde wurzelnd, sich in alle Richtungen hin ausdehnend, ohne Umfriedung – haltlos. Pflanzenformen und die Lebendigkeit des Materials Papier paaren sich in Birgit Knoechls Kunstwerken zu subtilen, in den Raum greifenden Formen. Neophyten, Pflanzentypen, die der Künstlerin unter anderem als Vorlage für ihre Installationen dienen, sind Lebewesen, die sich auf Wanderschaft befinden: sie kommen in eine neue Gegend, siedeln sich in fremden Territorien an und vertreiben heimische Gattungen. Un-Kraut werden sie auch genannt. Birgit Knoechl arbeitet mit parasitären Pflanzen und den unberechenbaren Eigenschaften dieser invasiven Organismen. Sie extrahiert Blatt- und Blütenformen, manipuliert und abstrahiert die Kreaturen und setzt schließlich die so gewonnenen Samples zu neuen Pflanzenformen zusammen.

Hier ein schattenspendender Baldachin, dort spitzblütig, ungleichblättrig und lichtdurchlässig, dem festen Tritt der Spaziergängerin untergeordnet, weich und samtig mit umso klarer konturierten Architekturen, mehrteilige Hybride – seriell. Wenn sie die Tuschezeichnungen aus meterlangen Papierbahnen ausschneidet, definiert Birgit Knoechl die zweidimensionale Linie der Zeichnung neu und definiert sie abermals, sobald die Arbeiten im Raum platziert werden, wo sie unweigerlich die zuvor am Papier begonnenen Wucherungen fortführen. Trotz der matten Grundlage des absorbierenden Trägermaterials wirken die Installationen metallisch, die Wucherungen aus Pflanzenhybriden changieren in allen nur erdenklichen Farben. Nicht nur die zarten Brechungen des Tageslichts auf der schwarzen Tusche machen die Kunstwerke zu jederzeit wandlungs- und wachstumsfähigen Skulpturen. Papier ist lebendig, es bewegt sich, je nach Schwankung der klimatischen Bedingungen reagiert es auf den Raum. Im Laufe der Zeit verändern sich die Werke, sie ziehen sich zusammen, sie dehnen sich wieder aus – pulsierend wie das Leben. Die organischen Collagen werfen Schatten auf die sie umgebenden Wände und erzeugen zusätzlichen Raum, der Raum des Dazwischen.

Hier trichterförmig, dort in hauchdünnen Schichten arrangiert, das Umfeld verneinend, entgegen jeglicher Nomenklatur, mit sprossenartigen Waffen bestückt, resistent, kultiviert und wieder verwildert – widerständig. Auf die Frage, warum die Künstlerin versucht, den zweidimensionalen Raum zu verlassen, antwortet sie: „Es geht um Okkupation.“ Raum besetzen, sich Raum aneignen und immer wieder neue Perspektiven darauf werfen – dies ist gleichermaßen Praxis und Thema in Birgit Knoechls Installationen, mit denen sie die Idee eines großen Hybridarchivs verfolgt. Sie verbindet wissenschaftliche und politische mit ästhetischen Aspekten, ohne dabei die thematisierten Sachverhalte explizit zu machen – das hemmt, diese Kontrolle braucht sie nicht. Die zahlreichen Gedankenwelten, die sich BetrachterInnen vor Knoechls Installationen eröffnen, sind alles andere als einengend: vielschichtig – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

 

Text by Franz Thalmair


published in “CUT_SCHERENSCHNITTE 20 aktuelle Positionen”
Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung
im Museum Moderne Kunst Kärnten
editor: Christine Wetzlinger-Grundig
MMKK 2011

Birgit Knoechl

out of control_growth IV

 

Forms of plant life and the liveliness of paper as a material couple in Birgit Knoechl’s works of art and become modular structures grasping at space. Starting from neophytes, types of plant that are permanently travelling, the artist works with these parasitic plants and the unpredictable characteristics of these invasive organisms. As soon as they have reached a new area, they settle in these alien territories and drive out resident species. out of control_growth IV presents excerpts from Knoechl’s archive of leave and flower forms, sequenced, manipulated and abstracted samples that are repeatedly mounted in new forms and structures. The idea of growth is visible in Knoechl’s work on multiple levels: on the one hand as a process of natural multiplication, on the other as the formal aesthetic procedure of the replication of identical set pieces.

 

Text by Franz Thalmair


appeared to the exhibition »Tja, im Loop kommt man weiter«
Glockengasse No 9. / Vienna/A
2011

Birgit Knoechl
out of control_growth IV

Pflanzliche Lebensformen und die Lebendigkeit des Materials Papier paaren sich in Birgit Knoechls Kunstwerken zu Raum greifenden modularen Gebilden. Ausgehend von den Neophyten, Pflanzentypen, die sich permanent auf Wanderschaft befinden, arbeitet die Künstlerin mit diesen parasitären Pflanzen und den unberechenbaren Eigenschaften dieser invasiven Organismen. Sobald sie neue Gebiete erreicht haben, siedeln sie sich in diesen fremden Territorien an und vertreiben die dort ansässigen Gattungen. out of control_growth IV präsentiert Auszüge aus Knoechls Archiv an Blatt- und Blütenformen, sequenzierte, manipulierte und abstrahierte Samples, die immer wieder zu neuen Formen und Strukturen montiert werden. Die Idee von Wachstum wird in Knoechls Arbeiten gleich auf mehrfacher Ebene sichtbar: zum einen als Prozess natürlicher Vermehrung, zum anderen als die formal-ästhetische Prozedur des Wiederholens immergleicher Versatzstücke.

 

Text by Franz Thalmair


erschienen zur Ausstellung »Tja, im Loop kommt man weiter«
Glockengasse No 9. / Vienna/A
2011

Birgit Knoechl

Materialfragen und rhizomatische Papierarchive

 

Birgit Knoechl in ihrem Gemeinschaftsatelier im ersten Wiener Gemeindebezirk, das sie für einen eigenen Arbeitsraum aufgibt.

Als "organisch" könnte man, die Ordnung in Birgit Knoechls Atelier beschreiben. Sie teilt sich mit vier Kollegen eine Altbauwohnung im ersten Bezirk - mit Pawlatschenhof und Blick auf den Haupteingang des Stephansdoms. Trotz der Größe der Räume stapeln sich Arbeitsmaterialien, Sammlerstücke, Restbestände von Werk- und Baustoffen und ein Fahrrad bis an die Decke. "Ich werde ein eigenes Atelier beziehen", sagt die Künstlerin, die ihren Arbeitsmittelpunkt in nächster Zeit in den sechsten Bezirk verlegt: "Wenn man in Ruhe arbeiten möchte, auch für Atelierbesichtigungen, ist es von Vorteil einen eigenen Bereich zu haben."

Birgit Knoechls Arbeitsraum in der Ateliergemeinschaft ist der kleinste der fünf Räume. Selbst wenn die Absolventin der Akademie der bildenden Künste ihre aus Papier bestehenden Arbeiten einfach zusammenrollen und wiederaufbauen kann, für die Bearbeitung der langen weißen Bahnen braucht sie viel Platz - ein weiterer Grund für den bevorstehenden Umzug. "Ich verwende Papierrollen, die zwischen zehn und fünfzehn Meter lang sind", so die Künstlerin über ihren Arbeitsprozess: "Sie werden getuscht und mit dem Stainless-Messer bearbeitet, bevor ich die fertigen Schnitte dann im Raum montiere."

 

Archivarische Denkmodelle

Trotz des matten Papiers wirken Knoechls Installationen metallisch, die Wucherungen aus Pflanzenhybriden changieren in allen nur erdenklichen Farben. Nicht nur die zarten Brechungen des Tageslichts auf der schwarzen Tusche machen ihre Kunstwerke zu jederzeit wandlungs- und wachstumsfähigen Skulpturen: "Papier ist irrsinnig lebendig", zeigt sich die Künstlerin von der Qualität ihres bevorzugten Materials begeistert: "Es bewegt sich, je nach Raumtemperatur, je nach Feuchtigkeit, je nach Schwankungen der klimatischen Bedingungen. Manche Arbeiten reagieren auf den Raum: im Laufe der Zeit verändern sich die Werke - sie ziehen sich zusammen, sie dehnen sich wieder aus."

Im Moment stellt Birgit Knoechl bei der 8. Papier-Biennale in den Niederlanden aus. An zwei Orten - in Apeldoorn und Rijswijk - ist sie mit ganz unterschiedlichen Kunstwerken vertreten. Im Bibliotheks-, Museums- und Kulturzentrum CODA Apeldoorn zeigt sie die große Installation out of control growth II (2008), eine massive Skulptur, die sich aus einer Ecke des Ausstellungsraums auf die BesucherInnen zuzubewegen scheint - ganz wie der Titel behauptet, ohne Kontrolle und in vollem Wachstum. "Von den großformatigen Modulen habe ich mittlerweile eine Sammlung von etwa dreißig Stück angelegt, das kleine Pflanzenarchiv besteht aus circa achtzig Schnitten", so die Künstlerin, die das Material Papier unweigerlich mit der Idee des Archivs verbindet und mit modularen Systemen arbeitet. Neben der Installation in Apeldoorn, hat sich die Künstlerin im Museum Rijswijk für die Präsentation einer kleinteiligen Werkserie mit dem Titel DIFFUSION.line_lab_0I (2009) entschieden: geschnittene und gerissene, zum teil geklebte Papierobjekte, die Knoechl mit schwarzer Tusche färbt.

 

Parasitäre Strategien

"Ich interessiere mich für Literatur und Filme, die von der Invasion organischer Materialien in fremde Territorien handeln", erzählt Knoechl über eine der assoziationsreichen inhaltlichen Grundlagen ihrer Arbeiten: "Ein Buch, das ich immer wieder aus dem Bücherregal nehme, heißt The Secret Life of Plants von Peter Tompkins and Christopher Bird aus den frühen 1970er Jahren. Darin werden zum einen wirklich absurde Geschichten über das Leben und sogar die Gefühlswelt von Pflanzen erzählt, zum anderen kommt aber auch Politisches zur Sprache - der Kalte Krieg zwischen Amerika und Russland wird beispielsweise auf Pflanzenebene behandelt."

Auf die Frage, warum die Künstlerin versucht, den zweidimensionalen Raum der Zeichnung mit ihren so genannten cut_outs zu verlassen, antwortet sie offensiv: "Es geht um Okkupation." Birgit Knoechl arbeitet mit parasitären Pflanzen und ihren Formen. Sie extrahiert Einzelteile wie Blatt- oder Blütenformen, abstrahiert diese, vergrößert sie und setzt sie wieder zu neuen Pflanzenformen zusammen. "Ich arbeite mit Samples und Re-Samples von rhizomatischen Strukturen. Wenn ich die Tuschezeichnungen aus dem Papier ausschneide, definiere ich die zweidimensionale Linie der Zeichnung neu... und definiere sie nochmals, wenn ich die Arbeiten im Raum installiere."

 

Szenische Herangehensweisen

Bei einer ihrer Installationen mit dem Titel as much as I can (2005) führt die Künstlerin das Spiel mit der Zwei- und Dreidimensionalität und die sich wiederholende Neuinterpretation einer Idee von Zeichnung geradezu exemplarisch vor. Das Objekt, einen einzelnen Schnitt, hat sie im Raum so montiert, dass die Beleuchtung der Skulptur Schatten auf die sie umgebenden Wände wirft. "Schatten erzeugt Raum", so Knoechl, "es geht mir um das Dazwischen." Dieses Interesse rührt von ihrem Studium der Theaterwissenschaft sowie von der Tätigkeit als Bühnenbildnerin und -ausstatterin. In den vergangenen Jahren hat sie regelmäßig Projekte in Zusammenarbeit mit der Theatergruppe dielaemmer realisiert.

"Der Prozess ist bei dieser gemeinschaftlichen Arbeit anders - in erster Linie ordnest du dich dem Ausgangstext unter und es gibt Regieanweisungen, an die du dich halten musst", erklärt die Künstlerin den Unterschied: "Im Gegensatz zu meiner künstlerischen Arbeit versuche ich bei der Theaterarbeit, dem Text und der Regisseurin zu entsprechen - das baut sehr stark auf Kompromissen auf." Eine ihrer aktuellen Produktionen, das nach Fernando Pessoa arrangierte und inszenierte Stück Ein ganz ausgefallenes Abendessen, das im August 2009 Premiere am Wiener Schauspielhaus hatte, wurde Anfang Juli 2010 beim Festival Internacional de Teatro de Almada im Lissaboner Nationaltheater gezeigt.

 

Gesellschaftspolitische Motive

"Ich inszeniere - ja", sagt Knoechl ohne Einschränkungen und bezieht sich damit sowohl auf ihre Tätigkeit im Theater, als auch auf ihre Installationen: "Ich betrete einen Raum und lasse diesen einmal auf mich wirken. Aus meinem Archiv wähle ich dann je nach den Bedürfnissen des Raums ein Set an Schnitten aus: braucht es einen helleren, braucht es einen dunkleren...? Wenn ich keine passenden Module finde, produziere ich neue Formen und Schnitte, die im Anschluss wieder ins Archiv aufgenommen werden."

Neuere Arbeiten, bei denen Knoechl ebenfalls mit Schatten operiert, stehen am Boden ihres Arbeitsraums: schwarz gerahmte, etwa zehn Zentimeter tiefe Kästen, deren Hintergrund weiß gehalten ist. Hinter der Plexiglasplatte auf der Vorderseite der Bilder präsentieren sich Schnitte - wieder organische Formen - manchmal nur ein einzelner, manchmal mehrere, die sich überlagern. Je nach künstlichem oder natürlichem Lichteinfall, je nach Intensität der aufgetragenen Tusche, je nach Blickwinkel der BetrachterInnen werfen die ausgeschnittenen Zeichnungen Schatten auf den weißen Hintergrund - nicht wie bei den großformatigen Arbeiten als Verdoppelungen im umgebenden Raum, sondern lediglich in einem durch den Rahmen begrenzen Ausschnitt des großen Ganzen.

Wachstum und Strukturen, die Idee eines großen Hybridarchivs und die Lebendigkeit des Materials Papier paaren sich in Birgit Knoechls Kunstwerken zu subtilen, in den Raum wachsenden organischen Formen.

Neophyten, jene Pflanzentypen, die der Künstlerin unter anderem als Vorlage für ihre Module dienen, sind Lebewesen, die auf Wanderschaft gehen oder - wenn man so möchte - emigrieren: sie kommen in eine neue Gegend, siedeln sich an und vertreiben mitunter die heimischen Pflanzen. "Das ist ein gesellschaftspolitisches Thema", sagt Birgit Knoechl abschließend: "Ich versuche wissenschaftliche und politische mit ästhetischen Aspekten zu verbinden, ohne dabei die thematisierten Sachverhalte explizit zu machen - das hemmt die BetrachterInnen." Die zahlreichen Gedankenwelten, die sich einem vor Knoechls Installationen eröffnen sind alles andere als einengend: vielschichtig - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, in der Tat.

 

Text by Franz Thalmair


 

erschienen in derStandard 26. Juli 2010
http://derstandard.at/1277338374283/Birgit-Knoechl-Materialfragen-und-rhizomatische-Papierarchive

kunst-bio-tope II

Temporäre Paradiesgärten in den Atrien des Verwaltungszentrums – Birgit Knoechl zeigt Latex-Durchwachsungen und Lukas M. Hüller „Sieben Todsünden“

 

Kunst außerhalb der musealen White Cubes, haben seit Mitte der 1990er Jahre einen wichtigen Stellenwert innerhalb der österreichischen Kunstszene gewonnen. Unter dem Schlagwort „Kunst im öffentlichen Raum“ werden zeitgenössische Skulpturen und Objekt nicht nur in die städtische Platzgestaltung einbezogen sondern sind auch als temporäre Installationen in öffentlichen Gebäuden ein Faktum geworden. Organisationen wie die einzelnen Landesimmobiliengesellschaften oder auch die BIG sowie die Verwaltungen der einzelnen Häuser sind dabei die Auftraggeber.

Nicht immer ziehen diese Aktionen auch einen Besucherstrom nach sich, die einer Blockbuster-Ausstellung gleich kämen. Doch darin erschöpft sich auch nicht ihre Intention. Vielmehr sind diese Installationen ein Bekenntnis der öffentlichen Hand zur zeitgenössischen Kunstproduktion, ob das in Wien der öffentliche Stadtraum ist oder die Naturlandschaft Niederösterreichs, stets steht das Sichtbarmachen der Kunst auch außerhalb ihres musealen Kontextes im Vordergrund. In Niederösterreich erschien dazu heuer bereits Band 9 zur Kunst im öffentlichen Raum. Das diese künstlerischen Eingriffe immer Diskussionen auslösen ist evident und auch gewollt. Wird doch der Rezipient im öffentlichen Raum, anders als bei einem Museumsbesuch unvorbereitet mit Kunst konfrontiert. Das freut manche nicht, vor allem dann wenn die Kunst auch noch mit Traditionen bricht, andere finden die Eingriffe in den öffentlichen Raum großartig. So generiert die Kunst einen Diskurs zwischen dem Für und Wider. Doch werden die Interventionen vor allem dann, wenn eine Nachhaltigkeit gegeben ist, letztlich doch stets angenommen.

Das Land Kärnten hat mit den Kunstbiotopen an diese österreichische Entwicklung angeschlossen und einen ungewöhnlichen Ort für die zeitgenössische Kunst geöffnet. Nach den ersten Installationen von Markus Hofer und Barbara Bernsteiner sind nun die Kunstbiotope II im Klagenfurter Verwaltungszentrum zu sehen. Als Künstler wurden diesmal der Fotokünstler Lukas M. Hüller und mit Kärntner Wurzeln die Objektkünstlerin Birgit Knoechl ausgewählt, neue Arbeiten für die beiden Atrien im Verwaltungszentrum zu entwickeln. Wie schon in der ersten Paarung wurde bewusst auf die eine künstlerische Begegnung über Grenzen Kärntens hinweg gesetzt, um eine erhöhte Aufmerksamkeit der Aktivitäten Kärntens im Bereich zeitgenössischer Kunst auch über die Region hinaus zu erreichen.

Der in Wien geborene, heute international agierende Fotokünstler Lukas M. Hüller stellt seinen Paradiesgarten aus, eine 12 Meter lange Fotoarbeit aus seinem Zyklus der Sieben Todsünden. Seine großformatigen Arbeiten sind mittels Rotationskamera gemacht, die dadurch ungewöhnliche Momente in der Fotografie einschließt oder eine neue Raumordnung mit der Bepflanzung im Atrium schafft. Darüber hinaus ermöglicht sie ein interessantes Spiel mit der Zeit, das über das Festhalten eines kurzen Moments hinausgeht.

Papier und Papierschnitt bilden die Ausgangsbasis für die raumgreifenden Installationen der in Wien lebenden und arbeitenden Künstlerin Birgit Knoechl.

Die bereits beim Großausstellungsprojekt K08 ausgestellte Künstlerin entwickelte für das Kärntner Verwaltungszentrum eine Installation # interface_lab I, bestehend aus 30 Einzelobjekten für die sie auf Materialien wie Weißpappe, Latex, Gummiplatten und Kunststoffschnüre zurückgreift. Aus der Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Zeichnungen des deutschen Zoologen Ernst Haeckel kreiert Birgit Knoechl ihre bizarren Objekte aus polygonen Grundformen und gestaltet daraus dreidimensionale Strukturen und Formen, die Assoziationen von sowohl vegetabilen als auch mineralischen Organismen hervorrufen. Im Atrium des Kärntner Verwaltungszentrums kontrastiert die Künstlerin die natürliche Bepflanzung der Halle mit ihren Objekten, die mit dem in der Mitte befindlichen Wasserbassin zu einem faszinierenden aquatischen Kunstbiotop verwachsen. Die hängenden Rundschnüre sind vergleichbar mit Luftwurzeln von Epiphyten, die auf Bäumen wachsen. Das Wachsen und Wuchern der schwarzen Pflanzenformen ist ein wichtiger Aspekt in ihren beeindruckenden Arbeiten und im heurigen Jubiläumsjahr des Technischen Museums Wien auch dort im Foyer zu sehen.

 

Text by Silvie Aigner


Text erschienen zur gleichnamigen Ausstellung / InSitu_Arbeit
2010

Birgit Knoechl

Nervous sculptures

 

The soft tissue of many leaves has decomposed by the end of a long, dry winter. What remains is the nerve skeleton, a fragile system of veins through which nutrients are supplied during more fertile periods of the years. Even so the former leaf is usually still recognisable in the fades tracery of ribs and nerves. Austrian artist Birgit Knoechl pares all manners of vegetative forms back to a flamboyant almost rampant interplay of lines executed in ink. Virtually nothing of her penmanship is lost when she translates her drawings into paper sculptures, but the growth in spatiality is explosive.

 

Proliferation

 

Out of control – the autonomy of growth is the name Birgit Knoechl (Vienna, 1974) has given to several of her installations in which the sculptures proliferate furiously in the corner of a space. It seems only a question of time before the space is so overgrown no one can enter. A good subtitle for another installation is vegetal_conspiracy! It is as if the malignant plants from The Day of the Triffids (book, film and TV series) have returned. In 2008 Birgit Knoechl presented her hybrid archiv I-LXXX comprising a collection of 80 cut_out sketches of plant and pseudo-plant forms. The illustrations by Ernst Haeckel (1834-1919) made for his Kunstformen der Natur (Art Forms of Nature) served as a source of inspiration. Knoechl’s cut_outs are preserved one by one behind glass like dried flowers and arranged together like a database for closer examination. Knoechl produces her cut_outs with very little: paper, (black) ink and a sharp knife is all she needs. While she deliberately displays her archive of cut_outs on a flat surface, the spatial works fan out luxuriantly in every possible direction. The sculptures – because this is what they are – inhabiting her installations can reach several metres in size. In musical terms a capriccio is jittery, restless piece, lively and fairly free in form.

It is a description that can also be – continuing in the musical vein – transposed to Knoechl’s cut_out work. The already fanciful nature of her drawing style is reinforced by that fact that the extremities of the hanging plants bend and arch in all directions and even intertwine with each other. Not only the play of shadows created by the open structure, but also the use of just black and white, or red in the case of cut_reds, intensify the exuberance. In her piece plant_lab – again a title so true to the nature of the work – Birgit Knoechl steadily works towards a position of autonomy, which could be a reflection of a world without human intervention.

 

Text by Frank van der Ploeg


Translation by Linda Fairwether Nash


Out of the catalogue, which was published for the Holland Paper Biennale 2010
Museum Rijswijk and CODA Apeldoorn,
8 June – 12 Septemer 2010

Birgit Knoechl
Nerveuze sculpturen

 

Na een lange winter is van veel bladeren het bladmoes verteerd. Wat overblijft, is het nerfskelet, een tee buizenstelsel waardoorheen in groeizame perioden de voedingstoffen werden aangevoerd. In het ontkleurde lijnenspel van de nerven is het voormalige blad meestal nog wel te herkennen. De Oostenrijkse Bigit Knoechl reduceert in inkt alle mogelijke vormen van vegetatie tot een zwierig, bijna bandeloos lijnenspel. Wanner ze haar tekeningen vertaalt in papier sculpturen gaat slechts weinig van het handschrift verloren, maar is de toename in ruimtelijkheid explosief.

 

Wildgroei

out of control - the autonomy of growth is de titel die Bigit Knoechl (Wenen, 1974) aan een aantal installaties heeft meegegeven. Woest woekeren de sculpturen in de hoek van een ruimte. Het lijkt een kwestie van tijd eer het onmogelijk zou worden die ruimte te betreden. Ondertitel van een anderen installatie vegetal_conspiracy! Het is alsof de boosaardige planten uit The Day of the Triffids (boek, film én miniserie) zijn teruggekeerd.
In 2008 presenteerde Birgit Knoechl haar hybrid archiv I – LXXX, een verzameling van 80 uitgesneden schetsen van plataardige en pseudoplantaardige vormen. Als inspiratiebron kan worden gewezen op de illustraties die Ernst Ha¬eckel (1834 -1919) maakte voor zijn Kunstformen der Natur (1899-1904). De gesneden tekeningen van Knoechl zijn stuk voor als droogbloemen „geconserveerd“ achtereen glazen plaat, naast en boven elkaar opgehangen als een database voor nader onderzoek. Knoechl maakt met weinig middelen haar snijwerk. Aan papier, (zwarte) inkt en een scherp mes heeft ze genoeg. Waar ze voor haar archiv het snijwerk bewust vlak etaleert, waaieren de ruimtelijke werken weelderig uit in alle beschikbare richtingen. De sculpturen – wat zo mag je ze wel noemen – die haar installaties bevolken kunnen metersgroot uitvallen. In muzikale termen is een capriccio een bokkig, springerig stuk, levendig en niet gebonden aan een vaste vorm. Het is een omschrijving die – om in muziektermen te blijven – kan worden getransponeerd op het snijwerk van Knoechl. Het toch al grillige karakter van haar tekenstijl versterkt ze doordat de uiteinden van de hangende gewassen aan alle kanten zijn omgebogen, welven en zelfs in elkaar steken. Het schaduwspel door de open structuren, maar ook de keuze voor louter zwarte-wit, of bloedrood in het geval ban de serie cut_reds, vergroten de levendigheid.
In haar plant_lab – alweer zo’n raak gekozen titel van een serie werken – werkt Birgit Knoechl gestaag aan een vrijstaat, die een afspiegeling zou kunnen zijn van een wereld zonder menselijk ingrijpen.

 

Text by Frank van der Ploeg


published in the catalogue for the Holland Paper Biennale 2010
Museum Rijswijk and CODA Apeldoorn,
8 June – 12 Septemer 2010

Zettels Traum: Papierkunst

 

Papier im Anmarsch. Was der späte Matisse mit seinen Scherenschnitten angezettelt hat, ist jetzt groß im Kommen. Papier geht als plastischer Werkstoff durch.

Weiß, flach, rein, unberührt, geradezu unschuldig – ein leeres Stück Papier. Ob es um Schriftstellerei geht, um kindliche Kreativität, Telefonkritzelei oder hohe Kunst: So wie es am Anfang des schöpferischen Akts steht und zugleich gierig auf ­seinem Anspruch auf ein Ende insistiert, birgt dieses Stück Materie jede Menge Sprengkraft. Bei aller Leichtigkeit – in so einem Blatt stecken zumindest Ideen drin, wenn es hoch hergeht, auch ein ganzes Werk. Keine klassische Skulptur, der nicht jede Menge Skizzen zugrunde liegen würden.

Kein Gemälde ohne Vorzeichnungen. Und fallweise vollenden sich in der Hinwendung zum fragilsten aller Materialien auch ganze Kunst-Geschichten. Dass Papier als eigenständiger Werkstoff eingesetzt wird, ist allerdings eine Entwicklung der Moderne. Henri Matisse wandte sich als einer der Ersten – eigentlich, weil er krankheitsbedingt nicht mehr malen konnte – in seinem revolutionären Spätwerk dem Papier zu.

Seine teilweise wandfüllenden Scherenschnitte aus den 1940er-Jahren stellten einen radikalen Befreiungsschlag dar, indem sie das einfachste und ursprünglichste aller Materialien mit Farbe und Raum in Beziehung setzten und so einen Bogen zwischen Malerei, Zeichnung und Skulptur schlugen. Zugleich erlaubte die geradezu kindliche Technik Matisse, ganz im Sinne der Moderne, die Befreiung von jeglichem intellektuellen Ballast. „Ich möchte mit der Schere zeichnen. Ich will das Leben mit den Augen eines Kindes sehen. Ich möchte direkt in die Farbe hineinschneiden“, sagte er. Die Scherenschnitte von Matisse leiteten eine Entwicklung ein, die zuerst der Erneuerung der Malerei Vorschub leistete. Denn für die Nachfolgegenerationen zählte, dass es gelungen war, das fragmentierte Bild in den Raum zu katapultieren – ein Ansatz, dessen Radikalität die Nachkriegsmodernen aufgriffen, allen voran die amerikanischen Farbfeldmaler: Ellsworth Kelly etwa, der seine Bilder aus einzelnen Monochromien zusammensetzte.

Derweilen harrten die „Papierarbeiter“ weiterhin auf der stillen Seite aus. Denn obwohl das Cross-over der Gattungen und Techniken seit einem Jahrhundert ein heißes Thema des Kunstdiskurses ist, schlug das Pendel unterm Strich zugunsten der Malerei aus.

Sinnliche Herausforderung. Dass sich heute die Zeichnung klammheimlich einen fast gleichrangigen Stellenwert erkämpft hat, ist eine mittlere Sensation. Lohn der Geduld? Sicher. Aber auch das Platzen des Kunstmarkt-hypes und die Sehnsucht nach realistisch ausgepreister Kunst scheinen beim Publikum ihren Niederschlag in konzentrierten, aber sinnlichen Positionen gefunden zu haben. Die Durchbrechung von Erwartungen ist damit zu einem zentralen Thema geworden. Zumal das Papier, das wie schon bei Matisse sowohl Bildträger als auch Material sein kann, mit seinem so fragilen wie zeichenhaften ­Charakter für Betrachter und Künstler eine besondere Herausforderung darstellt.

Andreas Kocks etwa, 1960 geborener, in New York lebender Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie, der seine Wurzeln „im Minimalismus“ sieht, sich aber zunehmend auf eine explosive Ornamenthaftigkeit hinbewegt hat, baut riesige dreidimensionale Wand- und Bodenarbeiten aus ausgeschnittenen, zusammengehefteten Papierelementen. Ausgehend von der Architektur des jeweiligen Raumes, arbeitet er mit rauem Aquarellpapier, das entweder unbearbeitet weiß bleibt oder in Graphit gefasst wird. Seine neueste Arbeit, einen raumgreifenden „Big Bang“, hat Kocks erst vor wenigen Wochen in Wien, im Foyer ­einer großen Werbeagentur, realisiert. 16 Meter lang, drei Meter hoch, mit Ausläufern bis zur Decke, signalisiert das poppige Papierobjekt genau jene Dynamik, die auch die Message des Auftraggebers ist: jenes „Wow!“, das auch ­gute Werbung dem Publikum entlocken möchte.

Papierbotanik. Explosivität und Dynamik – diesen Eindruck erwecken auch die im Durchmesser bis zu mehrere Meter großen, raumgreifenden Objekte Birgit Knoechls mit ihrer floralen Anmutung. Tatsächlich ist das Vorgehen der 34-jährige Wienerin, die bei Hubert Schmalix Grafik studiert hat, ein konzeptuelles. Die filigran mit dem Stanleymesser zugeschnittenen, in mehreren Vorgängen mit schwarz-weißer Tusche bemalten Module, die Zimmerecken und ganze Räume okkupieren, zitieren real existierende pflanzliche Strukturen: „Zum Beispiel Neophyten, Epohyten, Hybride und Rhizome“, listet die botanisch versierte Künstlerin einige Vorbilder auf. „Das kann man dann auch extrem politisch lesen, muss es aber nicht. Es ist wie bei einem Rorschachtest, in den man selbst viel hineininterpretieren kann.“ Und obwohl sie so wissenschaftlich daherkommen, lösen sich die Objekte in der Begegnung in flirrender Sinnlichkeit auf.

Gegenläufig dazu buchtet Anna Schreger (die zurzeit übrigens gerade mit Birgit Knoechl im Badener Kunstverein ausstellt) die „Flachware“ Zeichnung durch filigrane, eingeschnittene und eingesteckte Zusatzelemente fast unmerklich in den Raum aus. Dabei koppelt sie sie mithilfe von absurden Werkzeugen oder Gerätschaften rückwirkend an den menschlichen Körper, der, stets aufgelöst in feinlinige Fragmente, den plastischen Ausgangspunkt ihrer Arbeit bildet. Schon der Witz, mit dem Schreger den Körper von Kopf bis Fuß durchdekliniert, heischt nach Aufmerksamkeit. Baumarkt und Wellnessindustrie fallen da in eines, was sich formal in einem spielerischen Umgang mit Original, Kopie und Reproduktion niederschlägt.

Eine Prise Ironie. Die flüchtige Welt des Konsums und Lifestyles ist auch Ausgangspunkt für die Objekte und ­Installationen von Manuel Gorkiewicz. Papiergirlanden, teilweise ins Monumentale vergrößert, glitzernde Fransenketten, Tortenattrappen, aber auch Schokolade und präparierte Schmetterlinge sind für ihn Schlüsselmate­rialien, mit denen er ganze Räume vom Boden bis zur ­Decke ausstattet. Inspirationen holt sich der 32-jährige Grazer in Autohäusern, Konditorauslagen und Museen aller Art.

Gorkiewicz’ Zielscheibe ist vor allem das überprofessionalisierte Kunstsystem der Gegenwart. „Mit dem Prädikat Kunst kann man sehr viel Lifestyle produzieren“, sagt er. „Kunst also als Dekor?“ Gorkiewicz: „Meine Kunst ist nicht nur ironischer Kommentar. Ich will vor allem die Möglichkeit ansprechen, wieder relevante Dinge zu sagen.“ Dabei referiert er immer wieder auch die Kunstgeschichte. So hat er seine erste Museumsausstellung, aktuell in der Grazer Neuen Galerie, als veritable Retro-spektive angelegt – als Zitat und Hommage an den Vater der Konzeptkunst, Marcel Duchamp. Selbstverständlich nicht ohne Ironie.

 

Text by Johanna Hofleitner


Erschienen in „Die Presse – Schaufenster“
12.01.2009
http://diepresse.com/home/kultur/kunst/442377/ZettelsTraum_Papierkunst?from=suche.intern.portal

hybrid_archive I – LXXX
hybrid_intermediate_stage I

 

Hinter Glasplatten an der Wand aufgereiht präsentiert Birgit Knoechl ihre monochromen Zeichnungen vegetativer Formen in deutlicher Referenz zu archivarischen Prinzipien, die die Kontextualisierung der Arbeiten zueinander permanent forcieren. Neben- und untereinander positioniert artikulieren die Bilder das fließend ineinander übergehende formale Bewegungsfeld der Künstlerin: von der real existierenden Flora ausgehend bis hin zu völlig abstrakter Formensprache. Das Bindeglied bildet dabei der Gestus der Tuschezeichnungen, dem aber vor allem durch die materielle Erscheinung als ‘cut out’ eine eigentümliche Präsenz verliehen wird. Die Motive sind nicht einfach in das Papier eingeschrieben, sondern materiell aus dem Umfeld extrahiert und zu fragilen Zeichengerüsten transformiert worden. Strukturell hat das Material somit beide Rollen übernommen, die des Bildträgers und die des Bildzeichens.
Mit dem Ausschneiden wird der reale Raum an die Bildgegenstände heran geholt, dessen illusionistische Konstruktion in der Zeichnung selbst, durch die realitiv einheitliche Intensität der Linie, marginalisiert ist. Der Scherenschnitt erlaubt es der Zeichnung, die immer Ausgangspunkt von Birgit Knoechls Arbeiten ist, mit dem Raum und den BetrachterInnen in Kontakt zu treten. Während dieser Kontakt bei den Wandarbeiten eher subtil zustande kommt, wird den großen, nach gleichem Prinzip agierenden Raumarbeiten die Möglichkeit der buchstäblichen Entfaltung geboten. Die Ausstellung zeigt mit einer dieser Arbeiten exemplarisch die Vielfalt an oftmals zahlreich ineinander greifenden papierenen Liniengerüsten. Diese scheinen den Raum nicht nur zu be-zeichnen, sondern beginnen darüber hinaus - im Gegensatz zu den ‚konservierten’ Arbeiten hinter Glas - aufgrund klimatischer Veränderungen, ihren realen Pendants nicht unähnlich, ‘natürliche’ Tendenzen zu entwickeln und sich kontinuierlich neu zu ordnen. Es ist dieses Zusammenspiel von und der Umgang mit Motiv, Material und Medium, wodurch diese Übersetzungsstrategien der Linie in den Raum eine formal wie inhaltlich vielseitige Auseinandersetzung bieten.

Text by Juliane Feldhoffer


Text erschienen zur gleichnamigen Ausstellung
Startgalerie im Museum auf Abruf (MUSA)
Wien/2008

Birgit Knoechl
Plant_lab_revisited
hybrid_intermediate_stage_II

Alpen Adria Galerie, Klagenfurt

 

Papier und das Medium der Tuschezeichnung bilden die Ausgangsbasis für die raumgreifenden Installationen von Birgit Knoechl ebenso das künstlerische Verfahren des Papierschnitts, als dessen Pionier der Moderne Henri Matisse gilt. Er nannte diese Technik »mit der Schere zeichnen«. Als Cut_out Verfahren wurde diese Technik nach dem Zweiten Weltkrieg von der Pop-Art aufgenommen und in andere Materialien wie Kunststoff übersetzt, was eine Erweiterung in den Bereich Skulptur und Objektkunst zur Folge hatte. Birgit Knoechls Interesse gilt vor allem der Möglichkeit, dadurch die Line der Zeichnung tatsächlich in den Raum zu erweitern. Das Papier als zweidimensionaler Bildgrund verlagert sich zum Kunstwerk aus Papier. Der Werkstoff wird selbst zum Mittelpunkt und in seinen materiellen Eigenschaften und Eigengesetzlichkeiten genutzt und so neu interpretiert. Das Ausgangsmaterial wird aus seiner ursprünglichen Funktion gelöst und bearbeitet.

 

Die Künstlerin arbeitet stets in einem direkten Bezug zum Raum. Wesentlich ist dabei der sensible Umgang mit dem fragilen Material Papier sowie ein Interesse an einer differenzierten Oberflächenstruktur, die von Birgit Knoechl bewusst einbezogen wird. In ihrer Arbeit assoziiert sie das Wachstum der Linie anhand von pflanzlichen Formen. Die gezeichnete Linie wird durch den Prozess des Ausschneidens zu einem dreidimensionalen Papierobjekt, das buchstäblich in den Raum wuchert oder in der Übersetzung in das Medium Video als abstraktes Linienspiel erscheint. Das Material übernimmt dabei sowohl die Rolle des Bildträgers als auch des Bildzeichens, indem das Papier zuvor durch Birgit Knoechl bearbeitet und mit Tusche bemalt wird. Die Formenwelt ihrer Papierskulpturen spielt dabei bewusst mit der Frage von Vorbild und Wahrnehmung durch den Betrachter. Wenngleich sie ein abstraktes Linienknäuel in den Raum setzt, assoziiert man Strukturen und Formen des Vegetabilen. Durch den Kontrast von weißer und schwarzer Fläche wurde zudem eine Bewegung durch das Spiel von Licht und Schatten erzeugt. Ihre Installation formt ein Labyrinth von Linien, das in sich eine eigene autonome Welt zu scheint und den Raum für sich einnimmt wie parasitäre Pflanzen, die auf ihrem Wirt wuchern. Daraus entstehen assoziative Diskurse von utopischen und surrealen Welten bis hin zu Formen der Natur. Das Wachstum der Linie wird zum Hauptfokus in ihrer Arbeit, sowohl als Metapher in Bezug auf vegetabile Pflanzenformen als auch in einer Immanenz des Mediums selbst, das den Raum nicht mehr als illusionistische Zeichnung generiert, sondern diese im realen Raum verortet. Die Bezeichnung »hybrid« verweist darüber hinaus auf die konzeptuelle Ausrichtung. Aus unterschiedlichen Prozessen wie der Zeichnung, dem Papierschnitt und der Installation wird ein neues Ganzes. Die Besonderheit liegt darin, dass die zusammengebrachten Elemente für sich schon Lösungen darstellen, jedoch durch das Zusammenführen neue, erwünschte Eigenschaften entstehen. Durch den für die Arbeit immanenten Raumbezug ist die Installation als solche auch nicht in derselben Form wiederholbar, sondern entfaltet sich immer neu.

 

Text by Silvie Aigner


erschienen im Rahmen der Ausstellung
„K08 – Emanzipation und Konfrontation,Kunst aus Kärnten von 1945 bis heute“
Springer-Verlag/Wien
2008

PLANT_LAB_OV

 

The desire to find ways of making drawings outgrow the limits of the two dimensional surface is the driving force of Birgit Knoechl’s practice. She draws ever-new forms and patterns based on the shapes and structures of all manner of vegetative life forms –- and then cuts these forms out and arranges the cut_outs as sculptural objects in different spatial scenarios, or animates them by filming them in close-up. Trying out these different scenarios for staging the cut_outs in installations, Knoechl continuously explores how these drawings cut into space and what the space would do to them, how their staging in the space could bring them to life, and how the space could be brought to life through the drawings. Knoechl thus shows installation and video to be media that can open up a space (a real space as well as an imaginary one) around a drawing –- or more precisely, that in space and video the immanent potential spatiality of drawings can be unfolded.

Through this exploration of space and video as media for staging and contextualising cut_out drawings runs a sensibility for the principle of growth. A kind of growth that, even though it surrounds us everywhere in the form of vegetative life, we still fail to understand – mostly because we have not even begun to realise how strange, how alien, how other this infinitely silent and slow, but utterly uncompromising, persistent growth is to which plants dedicate their existence. It is this sensibility for the utter otherness of the principle of vegetative growth that Birgit creates through her work.

This concept of growth does not come to figure in her work as a mere metaphor. It is its principle. It is immanent to her use of drawings as a basic material that is made to outgrow itself through its staging in space and video. The immanent principle of growth thereby becomes the material core of a work around which many associative discourses and dreams of equally utopian and threatening forms of wild growth can flower.

Text by Jan Verwoert


published in “Wherein certain persons…”
catalog of the exhibition of the same name
in TENT/ Rotterdam Okt./Nov. 2006
editor: Piet Zwart Institute/Rotterdam

plant_lab_0I

vegetal_conspiracy_#01

 

Birgit Knoechl’s work developed from an interest in making the lines of a drawing stretch beyond their two-dimensional frame into the space of the viewer. The results are installations with cut_outs, which form a maze or morbid growth of lines that seem to form their own autonomous world as well as to invade and take over the existing space. Knoechl associates these growths of lines with parasitic plants, and thus touches on biological theories as well as science fiction fantasies about the evolution and mutation of vegetal life. For Het Wilde Weten Knoechl created a new installation that allows the viewer to step into the space of her drawing and get drawn into her plant_like microcosm.

 

Text by Anke Bangma


How to send a Message
Plant_lab_0I/vegetal_conspiracy_#01
Het Wilde Weten / Rotterdam/NL /2005

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