BIRGIT KNOECHL

 

Ausgehend von der Linie auf zweidimenionaler Oberfläche entwickelt Birgit Knoechl dreidimensionale, raumgreifende und formende Strukturen. Deren heterogener, organisch wirkender Verlauf steht dabei den statischen Gegebenheiten des Ausstellungsraumes gegenüber. Linie lösen sich aus ihrer Begrenzung und formen sich zu Gebilden, der Begriff des Zeichnens erfährt eine technische Erweiterung.

 

Durch den Schnitt kann die Zeichnung in andere Ebenen gebracht werden, sie wächst in den Raum. Für The Autonomy of Growth bemalt die Künstlerin ihre mit dem Stanleymesser geschnittenen, gerissenen und teils geklebten Papierskulpturen mit Tusche und konstruiert aus einzelnen Bausteinen, die sie ihrem Archiv entnimmt, großformatige Wandgebilde, üppige Arrangements, die sie an die jeweilige räumliche Situation anpasst. Gut zehn Meter lange weiße Bahnen aus Aquarellpapier stehen hierfür als Ausgangswerkstoff zur Verfügung. Durch das Schöpfen aus ihrem vielfältigen Archiv und die immer neue Verknüpfung der einzelnen Elemente schafft es Knoechl, eine schier endlose Bandbreite an Konstellationen für ihre Arbeit zu gewährleisten. Mittels der Bearbeitung und mehrfachen Bemalung gewinnt das Material an Haptik, unterschiedliche Nuancierungen betonen die Beweglichkeit des Grundstoffs Papier und schaffen eine wandlungsfähige Skulptur.

 

Vormals inspiriert durch japanische Ornamentik, entnimmt die Künstlerin sämtliche Formen und Strukturen für ihre Arbeiten nun dem Erscheinungsbild pflanzlicher Lebensformen. Es entsteht eine dynamische, nahezu bedrohliche Wucherung im Raum, die Blatt- und Blütenformen aufgreift und umstrukturiert, abstrahiert. Dabei finden sich Nadelformen und Knollenartige Strukturen ebenso wie Blattmuster und Knospen, die in Verästelungen auslaufen oder sich in Knoten verdichten. Die daraus resultierende Entfaltung im Raum und somit Okkupation desselben basiert auf der Inspiration durch invasive pflanzliche Organismen: Neophyten wandern und siedeln sich in neuen Gebieten an, wobei sie teils heimische Pflanzenarten vertrieben. Neben einer gesellschaftspolitischen Deutungsebenen, die gerade in Zeiten großer Fluchtbewegungen anklingt, legt der Terminus des Wachstums auch Parallelen zu wirtschaftlichen Prozessen nahe. Knoechl verknüpft in ihren Arbeiten oft wissenschaftliche, politische und ästhetische Aspekte, ohne jedoch explizit zu werden und dem Betrachter dabei Gegebenheiten aufzudrängen. Auch Epiphyten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie auf anderen Pflanzen wachsen, werden als Vorbilder herangezogen, genauso wie Rhizome (Wurzelgeflechte) oder Hybride, die sich durch die Kombination verschiedener Elemente definieren. Letztere verweise zudem auf die unterschiedlichen Gestaltungsprozesse innerhalb der Arbeit: Zeichnung, Papierschnitt und Installation sind für sich feste Elemente und ergeben durch ihre Kombination zudem eine neue, weitere Ebene. Auch in dem Medien Film und Literatur interessiert sich Knoechl für den invasiven Eingriff organischer Strukturen in fremden Territorien: das Buch The secret life of plants (1973) von Peter Tompkins und Christopher Bird, das die Künstlerin als Quelle der Inspiration heranzieht, untersucht anhand von Experimenten ungewöhnliche Verhaltensmuster von Pflanzen und schließt daraus auf deren Gefühlswelt und mimetische Fähigkeiten. Der in der Werkgruppe von Knoechls Wandarbeiten oftmals beigefügte Titel Out of control lässt neben dem pflanzlichen Wucherungscharakter ebenso eine weitere, politische Deutung zu: Bei Demonstrationen beschreibt dieses Prinzip das Auflösen der Formation und das neue Zusammensetzen der Gruppe an einem anderen Ort. Unkontrollierte Bewegungen und Dezentralität sind der Kern des Prinzips. Durch das stetige Auflösen der Komposition in ihre Bestandteile und die erneute Zusammensetzung anderenorts – Bausteine fallen weg oder kommen hinzu – greift Knoechl dies in ihrer Arbeit auf.

 

Wenngleich das Pflanzenwachstum durch seine unkontrollierbare Ausuferung somit durchaus eine bedrohliche Komponente beinhaltet, verweist es doch auch positiv auf den Ursprung des Lebens und geht dabei sowohl leise als auch langsam vonstatten. Knoechls Gebilde scheint nicht nur gewachsen zu sein, sondern sich noch immer im Wachstumsprozess zu befinden.

 

Trotz aller Orientierung an pflanzlichen Mustern gibt die Form nicht vor, Natur zu sein; die Grenze zwischen Natürlichem und Fiktivem wird zum einen unterstrichen, andererseits aber auch aufgehoben. Parallelen finden sich zudem zwischen der dargestellten Pflanzenwelt und dem natürlichen, pflanzlichen Ursprung des Werkstoffs Papier. Durch eine gewisse Empfindlichkeit, die dem Material geschuldet ist, können sich Knoechls Gebilde, je nach klimatischen Bedingungen im Raum, leicht bewegen und verändern sich im Laufe einer Ausstellungsperiode. Sie nehmen natürlich anmutende Wandlungstendenzen an und ordnen sich dabei neu. Durch Temperatur und Luftfeuchtigkeit ziehen sich die Papierelemente zusammen oder dehnen sich aus. Dies führt zu einem fast lebendigen Eindruck der Formen und einem Spiel mit Licht und Schatten, was eine weitere räumliche Komponente konstruiert.

 

Laut Knoechl lässt sich das Aufgreifen der pflanzlichen Formen in ihrer Arbeit durchaus verschiedenartig deuten und auch politisch lesen – trotzdem verhält es sich bei der Interpretation wie bei einem Rorschach Test: Nichts ist festgelegt oder muss gesehen werden, die Arbeit ist individuell zu lesen und es geht nicht darum, Sachverhalte explizit darzustellen und verstehen zu müssen. Vorbild und Wahrnehmung müssen außerdem nicht immer kongruent sein, sondern lassen gleichermaßen Raum für Überlagerung wie Differenz.

 

An Birgit Knoechls Arbeit The Autonomy of Growth wird der Wandel innerhalb der Disziplin Scherenschnitt im Laufe der Zeit besonders deutlich: weg vom klassisch flächigen und kleinformatigen, silhouettenformenden Scherenschnitt entstehen nun große, raumgreifende und vielmehr dreidimensionale, skulpturale Installationen. Die Autonomie der Gestaltung ist dabei Grundlage der Arbeiten. So werden Elemente aus verschiedenen Disziplinen mit eingebunden, es kommen Einflüsse aus Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Architektur zum Tragen. Das Papier ist endgültig plastischer Werkstoff, bildet die Basis für Skulptur und Objektkunst. Eine Anlehnung an traditionelle Muster des Scherenschnitts findet sich am ehesten in der Reduzierung der Farbpalette auf Schwarz und Weiß, mit leichten Nuancierungen.

 

Text by Stephanie Buck

published in »SCHARF GESCHNITTEN«
Galerie Stihl / Waiblingen / Germany
2018