Aggregatzustände

Birgit Knoechls Werkserie shape of the black line

 

Radialstrahlig, stängelig, nadelig, trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, zylindrisch, würfelig, prismatisch – die Attribute, die zur Beschreibung von kristallinen Formen dienen, weisen auf ihre Lebendigkeit hin. Im Unterschied zu biologischen Organismen wie etwa Pflanzen, Tieren oder Menschen, die sich erst unter Zufuhr von Energie entwickeln können, hat die Bildung von Kristallen mit der Einsparung eben dieser Energie zu tun. Wechseln die feinstofflichen Bauteile von Kristallen vom gasförmigen in den festen Zustand, so verringert sich ihre Bewegungsenergie, Anziehungskräfte werden wirksam und sobald sich ein erster Kristallisationskeim gebildet hat, verdichtet sich weitere Materie durch permanente Wiederholung des Grundmusters. Es sind Körper mit Ecken, Kanten und Flächen, in die der Kristallisationsprozess schließlich mündet – Wachstum. Es sind auch die gewachsenen Grundformen der Natur, die den Ausgangspunkt für Birgit Knoechls Werkserie shape of the black line bilden. Bei ihren Objekten handelt es sich um Karton, den die Künstlerin zu kristallinen Gebilden faltet, klebt und mit schwarz getuschtem Latex beschichtet. Sowohl die Haptik als auch die Optik des darunter liegenden organischen Materials – Papier – wird Schicht für Schicht verdichtet und verfremdet. Knoechls präzise mit dem Lineal gezogene Zeichnungen von kristallinen Gebilden, entstehen parallel dazu. Die Zeichnungen und Objekte sind zwar niemals deckungsgleich, in Analogie zur natürlichen Kristallisation wiederholen sich jedoch einzelne Formen und spiegeln Knoechls fortwährendes künstlerisches Bestreben wider, die zeichnerische Linie aus ihrer Zweidimensionalität zu befreien und in den Raum zu überführen. Eine Form ergibt die andere, eine Fläche schmiegt sich an eine weitere und erzeugt eine Ecke, deren Winkel wiederum als Ausgangspunkt für weitere Formen dient und monumentale Skulpturen aus dem Papier wachsen lässt. Fasziniert von skurrilen Architekturen zitiert Birgit Knoechl mit shape of the black line das Formenvokabular des Konstruktivismus, sie moduliert mit ihren Objekten die biomorphen Architekturen eines Buckminster Fullers, sie variiert mit ihren Zeichnungen die isometrische Linienführung eines Sol LeWitts. Mit Rückgriff auf kollektives Wissen über die natürliche Formenvielfalt verleiht Birgit Knoechl der Linie sprichwörtlichen wie buchstäblichen Raum und gibt diesen in ebenso variablen wie manifesten Aggregatzuständen wieder – radialstrahlig, stängelig, nadelig, trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, zylindrisch, würfelig oder prismatisch – oder als einen der variantenreichen Seinszustände dazwischen.

 

Text by Franz Thalmair

erschienen zur Ausstellung „A vol d’artiste, Salzburg – Luxemburg“
Espace Monterey/L – Galerie im Traklhaus/A
editor: Galerie im Traklhaus
2011